Morddeutung: Roman (German Edition)
physiologische, sondern eine psychologische Betreuung vonnöten, denn solche Leiden gehen einzig von einer Idee, einem geistigen Bild aus – in Priscillas Fall dem Bild ihrer linken Hand.
Der behandelnde Arzt hatte natürlich keine organische Grundlage für ihre Beschwerden finden können. Ebenso wenig wie der hinzugezogene Chirologe aus New York. Er hatte Ruhe und einen vollständigen Rückzug von allen Aktivitäten verordnet, was den Zustand der Patientin mit hoher Wahrscheinlichkeit noch verschlimmerte. Sogar ein Osteopath war gerufen worden, der selbstverständlich auch nichts ausrichten konnte.
Nachdem ich die verschiedenen neurologischen und orthopädischen Möglichkeiten – Schlaganfall, Kieböck-Krankheit und so weiter – eliminiert hatte, entschloss ich mich zu einer Psychoanalyse. Zunächst biss ich damit auf Granit. Der Grund dafür war die Gegenwart der Mutter. Auch mit ziemlich handfesten Andeutungen war die gute Frau nicht dazu zu bewegen, den Arzt und die Patientin der für die Psychoanalyse unabdingbaren Zweisamkeit zu überlassen. Nach dem dritten Besuch erklärte ich ihr, dass ich mich außerstande sah, Priscilla zu helfen oder sie weiterhin auch nur als Patientin zu empfangen, wenn sie – die Mutter – sich nicht von den Sitzungen fernhielt.
Auch danach gelang es mir zuerst nicht, Priscilla zum Sprechen zu bringen. Nach dem Beispiel von Freuds neuesten therapeutischen Fortschritten bat ich sie, sich mit geschlossenen Augen hinzulegen. Ich forderte sie auf, an ihre gelähmte Hand zu denken und alles zu äußern, was ihr in Verbindung mit diesem Symptom in den Sinn kam. Sie sollte alle Gedanken aussprechen, die ihr durch den Kopf gingen, gleich welcher Art, auch wenn sie scheinbar noch so belanglos, unpassend oder sogar unhöflich waren. Doch Priscilla wiederholte immer nur eine äußerst oberflächliche Beschreibung des Beginns ihrer Beschwerden.
Nach ihrer stets gleichen Geschichte war der entscheidende Tag der 10. August 1907 gewesen. Sie konnte sich so genau an das Datum erinnern, weil es der Tag nach dem Begräbnis ihrer geliebten älteren Schwester Mary war, die zusammen mit ihrem Mann Bradley in Boston gelebt hatte. Mary war an der Grippe gestorben und hatte Bradley zwei Kinder im Säuglingsalter hinterlassen. Am Tag nach der Beerdigung musste Priscilla im Auftrag ihrer Mutter Danksagungen an die vielen Freunde und Verwandten schreiben, die der Familie ihr Beileid bekundet hatten. An diesem Abend spürte sie starke Schmerzen in der linken Hand – ihrer Schreibhand. Sie fand nichts Ungewöhnliches daran, zum einen weil sie so viele Briefe verfasst hatte und zum anderen weil sie schon in den vergangenen Jahren öfter Schmerzen in dieser Hand gehabt hatte. Doch in dieser Nacht erwachte sie mit starker Atemnot. Als die Dyspnoe allmählich abklang, wollte sie wieder einschlafen, konnte aber nicht. Am Morgen litt sie unter der ersten jener Kopfschmerzattacken, die sie im nächsten Jahr immer wieder heimsuchen sollten. Am schlimmsten war jedoch die Lähmung ihrer gesamten linken Hand, die sie gleichzeitig entdeckte. An diesem Zustand hatte sich seither nichts mehr geändert – die Hand hing bewegungsunfähig am Gelenk.
Diese und ähnliche Fakten betete sie immer wieder herunter. Danach folgte häufig langes Schweigen. Auch wenn ich ihr mit größtem Nachdruck versicherte, dass es noch mehr gab, was sie mir erzählen musste – dass eine völlige Leere in ihrem Kopf einfach nicht möglich war -, blieb sie beharrlich dabei, dass ihr nichts anderes einfiel.
Ich spielte mit dem Gedanken, sie zu hypnotisieren. Sie war zweifellos ein leicht zu beeinflussendes Mädchen. Aber Freud hatte sich eindeutig gegen die Hypnose ausgesprochen. In der Anfangszeit, als er noch mit Breuer arbeitete, war es eine bevorzugte Technik gewesen, doch Freud hatte festgestellt, dass Hypnose keine nachhaltigen Erfolge brachte und auch keine zuverlässigen Erinnerungen zutage förderte. Schließlich entschied ich mich für eine Methode, die Freud nach der Aufgabe der Hypnose angewandt hatte. Das führte schließlich zum Durchbruch.
Ich sagte zu Priscilla, dass ich ihr die Hand auf die Stirn legen wollte. Ich versicherte ihr, dass es eine Erinnerung gab, die herauswollte, eine Erinnerung, die für alles, was sie mir erzählt hatte, von größter Bedeutung war und ohne die wir nichts verstehen konnten. Diese Erinnerung nun, die sie sehr gut kannte, auch wenn sie nichts davon wusste, würde sofort aus ihr herauskommen,
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