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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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später löste der Anblick des Rings an Marys Hand im Sarg die gleichen Gedanken aus, die nun beinahe – oder einen Augenblick lang sogar wirklich – in Priscillas Bewusstsein traten. Doch jetzt kam zu den verbotenen Gefühlen des Verlangens und der Eifersucht noch die vollkommen unzulässige Befriedigung über den frühen Tod ihrer Schwester. Dies wiederum führte zu einem neuen und ungleich stärkeren Verdrängungsbedürfnis.
    Die Rolle der Dankesschreiben nach der Beerdigung ist etwas komplexer. Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr Priscilla gelitten haben musste beim Anblick ihrer linken Hand, die nicht von einem Ehering geziert wurde und wiederholt gezwungen wurde, Trauer über das Ableben ihrer Schwester zum Ausdruck zu bringen. Möglicherweise ging dieser innere Widerspruch über Priscillas Kräfte. Zugleich war das mühsame Schreiben vielleicht eine physiologische Untermauerung der folgenden Entwicklung. Auf jeden Fall wurde die linke Hand zu einer unerträglichen Kränkung für sie, die sie sowohl an ihren unverheirateten Zustand als auch an ihre inakzeptablen Wünsche erinnerte.
    Aus diesem Grund gewannen drei Ziele die Oberhand. Erstens durfte sie solch eine Hand nicht haben. Sie musste die Hand loswerden, die keinen Ehering an der Stelle trug, wo ein Ehering hätte sein müssen. Zweitens musste sie sich für ihren Wunsch, Mary als Brads Ehefrau zu ersetzen, bestrafen. Drittens musste sie die Erfüllung dieses Wunsches unmöglich machen. Durch die hysterischen Symptome wurden alle drei Ziele erreicht. Es ist bewundernswert, mit welcher Ökonomie der Mittel das Unbewusste arbeitet. Symbolisch gesprochen entledigte sich Priscilla ihrer anstößigen Hand. Damit erfüllte sie sich ihren Wunsch und bestrafte sich zugleich dafür. Zudem sorgte sie durch ihre Invalidität dafür, dass sie nicht mehr in der Lage war, sich um Bradleys Kinder zu kümmern oder ihn auf andere Weise »glücklich zu machen«, wie sie es so taktvoll ausgedrückt hatte.
    Priscillas Behandlung dauerte von Anfang bis Ende nicht länger als zwei Wochen. Nachdem ich ihr versichert hatte, dass ihre Wünsche völlig natürlich waren und sich ihrer Kontrolle entzogen, schüttelte sie nicht nur ihre Symptome ab, sondern blühte geradezu auf. Die Nachricht von der Genesung der Patientin verbreitete sich in Worcester, als hätte der Heiland persönlich einem von Jesajas Blinden das Augenlicht wiedergegeben. Folgende Version der Geschichte machte die Runde: Priscilla war aus Liebeskummer erkrankt, und ich hatte sie geheilt. In das von mir praktizierte Handauflegen wurden alle möglichen quasimystischen Kräfte hineininterpretiert. Dies förderte zwar mein Ansehen und ließ meine Praxis florieren, aber es gab auch weniger erfreuliche Folgen. Denn in meine Behandlungsräume ergoss sich ein Strom von dreißig oder vierzig pseudopsychoanalytischen Patientinnen, die allesamt unter beängstigend ähnlichen Symptomen wie Priscilla litten und sich eine Diagnose unerfüllter Liebe sowie eine Wunderheilung durch Handauflegen versprachen.

     
    Als ich mit meiner Erzählung zu Ende kam, fuhr der Zug in die Haltestelle City Hall ein. Als wir Park Row erreichten, mussten wir in die BRT-Hochbahn umsteigen, um nach Coney Island zu gelangen. Niemand gab einen Kommentar zu Priscillas Fall ab, und ich bekam bereits Sorge, dass ich mich zum Narren gemacht hatte. Aber Brill sprang mir bei. Er gab Freud zu verstehen, dass ich ein Wort des »Meisters« zu meiner Analyse verdient hatte.
    Ich konnte es kaum glauben, als Freud sich mit einem Funkeln in den Augen an mich wandte. Er fand, dass die Analyse, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, nicht besser hätte durchgeführt werden können. Er nannte sie brillant und bat mich um die Erlaubnis, sie in seinen Arbeiten als Referenz zitieren zu dürfen. Brill klopfte mir auf die Schulter, und Ferenczi schüttelte mir lächelnd die Hand. Das war nicht nur der erfüllendste Augenblick meines Berufslebens, sondern meines gesamten bisherigen Lebens.
    Mir war nie aufgefallen, wie prächtig die Haltestelle City Hall mit ihren Kristallkronleuchtern, eingelegten Wandbildern und Gewölbebögen war. Alle machten bewundernde Bemerkungen – mit Ausnahme von Jung, der uns plötzlich mitteilte, dass er nicht mit uns kommen wollte. Jung hatte sich weder während noch nach meinem Bericht zu Priscillas Analyse geäußert. Jetzt gab er uns zu verstehen, dass er dringend ins Bett musste.
    »Ins Bett?« Brill klang verwundert. »Sie sind

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