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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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zum Stall zu schicken, für den Fall, dass Miss Nora ausreiten wollte.
    Als Reiterin war sie mir um keinen Deut unterlegen. Nach einem raschen Handgalopp breiteten wir an einem schattigen Fleck mit herrlichem Ausblick auf den Hudson eine Decke aus. In dem Picknickkorb fanden wir ein Dutzend Muscheln auf Eis, kaltes Huhn, Kartoffelkroketten, eine Büchse Kekse und einen Obstsalat mit Kirschen und Wassermelone. Neben einer Kanne Eistee hatte die Köchin auch noch eine halbe Flasche Rotwein dazugelegt, offenbar für »den Herrn«. Ich hatte seit gestern Abend keinen Bissen mehr gegessen.
    Als wir schließlich satt waren, fragte Nora unvermittelt: »Sind Sie ehrlich?«
    »Vollkommen«, antwortete ich, »aber nur, weil ich so ein schlechter Schauspieler bin. Werden die Bediensteten Ihre Eltern anrufen und ihnen sagen, dass Sie hier sind?«
    »Hier gibt es kein Telefon.« Sie setzte ihren Panamahut ab und erlaubte den Sonnenstrahlen, auf ihrem Haar zu spielen. »Ich muss mich entschuldigen für mein Benehmen auf der Fähre, Dr. Younger. Ich weiß auch nicht, weshalb ich Ihren Vater erwähnt habe. Bitte verzeihen Sie mir. Ich fühle mich, als wäre ich in einem brennenden Haus gefangen, aus dem es keinen Ausweg gibt. Clara ist die Einzige, an die ich mich wenden konnte, aber jetzt ist es auch ihr nicht mehr möglich, mir zu helfen.«
    »Es gibt einen Ausweg«, versicherte ich ihr. »Sie bleiben einfach bis Sonntag hier. Dann sind Sie achtzehn, und Ihre Eltern können Ihnen nichts mehr vorschreiben. Gleichzeitig wird Littlemore mit ein bisschen Glück die Spuren, die wir gefunden haben, zu Banwell zurückverfolgen und ihn verhaften.«
    »Was für Spuren?«
    Ich erzählte ihr von unserem Ausflug in den Senkkasten. Jetzt, in diesem Moment, erklärte ich, hatte Littlemore vielleicht schon festgestellt, dass der Inhalt des Schrankkoffers Miss Riverford gehörte, und mehr war für Mr. Banwells Verhaftung nicht nötig.
    »Da habe ich große Zweifel.« Nora schloss die Augen. »Erzählen Sie mir etwas anderes.«
    »Was denn?«
    »Irgendwas. Hauptsache, es betrifft nicht George Banwell.«

     
    Im Acton-Haus am Gramercy Park durchwühlte Noras Mutter das Zimmer ihrer Tochter. Nora war verschwunden. Mildred Acton schickte Mrs. Biggs in den Park, um nach dem Mädchen zu suchen, doch sie war nicht dort. Der Gedanke, von ihrer eigenen Tochter hintergangen worden zu sein, erfüllte Mrs. Acton mit Empörung. Offensichtlich war Nora geistesgestört – verschlagen und geistesgestört. Keinem ihrer Worte konnte man trauen. Mrs. Acton hatte selbst die Entdeckung der Zigaretten und Kosmetikartikel im Zimmer ihrer Tochter miterlebt. Wer konnte sagen, was sie dort noch verbarg?
    Doch Mrs. Acton fand nichts, was sie hätte konfiszieren können, bis sie die Hand unter das Kopfkissen ihrer Tochter schob. Erstaunt stellte sie fest, dass sie auf ein Küchenmesser gestoßen war.
    Diese Entdeckung übte eine merkwürdige Wirkung auf Mildred Acton aus. Einen Sekundenbruchteil lang schossen ihr blutige Bilder durch den Kopf, darunter auch Erinnerungen an die Geburt ihres einzigen Kindes. Wie immer, wenn dies geschah, fiel Mrs. Acton daraufhin sofort die Tatsache ein, dass sie und ihr Mann seit diesem Tag in getrennten Betten schliefen. Einen Moment später waren diese grausigen Bilder und Assoziationen wieder verflogen. Mrs. Acton hatte sie bereits gänzlich vergessen, aber nun war sie völlig aufgelöst. Mit der unumstößlichen inneren Gewissheit, ihre Tochter vor sich selbst schützen zu müssen, legte sie das Messer an seinen Platz in der Küche zurück.
    Wenn nur ihr Mann endlich etwas getan hätte! Wenn er bloß nicht so ein hoffnungsloser Fall gewesen wäre, in der Stadt ständig in seinem Studierzimmer verkrochen und auf dem Land pausenlos beim Polospielen. Harcourt hatte Nora schrecklich verzogen. Kein Wunder natürlich – er war ja in allem ein Versager. Hätte er nicht von seinem Vater ein kleines Vermögen geerbt, wäre ihr Mann bestimmt im Armenhaus geendet. Das hatte ihn Mildred schon einige Male wissen lassen.
    Mrs. Acton merkte, dass sie sofort bei Dr. Sachs anrufen und einen Termin für eine Elektromassage vereinbaren musste. Sie hatte zwar erst gestern eine bekommen, und der Preis war wirklich unverschämt hoch, aber sie hatte einfach das Gefühl, dass sie es ohne ihre Massage keine Sekunde mehr aushalten konnte. Dr. Sachs war einfach ein Meister seines Fachs. Natürlich wäre es schöner gewesen, überlegte sie, wenn sie einen

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