Morddeutung: Roman (German Edition)
christlichen Arzt gefunden hätte, der sein Metier ebenso gut beherrschte. Aber hieß es nicht ohnehin immer, dass die besten Ärzte Juden waren?
Wie stets in solchen Fällen herrschte in meinem Kopf absolute Leere, als mich Nora bat, etwas zu sagen, um sie abzulenken. Dann fiel mir doch etwas ein. »Gestern Nacht habe ich die Lösung von Sein oder Nichtsein gefunden.«
»Ich wusste gar nicht, dass da eine Lösung nötig ist«, antwortete sie.
»Ach, die Leute suchen schon seit Jahrhunderten nach der Lösung dieses Rätsels. Aber niemand hat sie je gefunden, weil alle immer geglaubt haben, dass Nichtsein Sterben heißt.«
»Und das heißt es nicht?«
»Na ja, es ergibt sich ein Problem, wenn man es so liest. Der ganze Monolog setzt Nichtsein mit Handeln gleich: zu den Waffen greifen, Rache üben und so weiter. Wenn also Nichtsein Sterben heißt, dann hätte der Tod den Begriff des Handelns auf seiner Seite, der doch eigentlich zum Leben gehört. Wie also ist das Handeln auf die Seite des Nichtseins gelangt? Wenn wir diese Frage beantworten könnten, wüssten wir, warum für Hamlet Sein bedeutet, nicht zu handeln. Und damit hätten wir das eigentliche Rätsel gelöst: Warum handelt er nicht, warum ist er so lange gelähmt? Entschuldigung, ich langweile Sie bestimmt.«
»Nicht im Mindesten. Aber Nichtsein kann nur Tod heißen.« Nora zuckte die Achseln. »Nicht sein bedeutet eben nicht sein.«
Ich hatte mich auf den Ellbogen gestützt und setzte mich jetzt auf. »Nein, ich meine, ja, natürlich. Nichtsein hat aber noch eine zweite Bedeutung. Das Gegenteil von Sein ist nicht nur der Tod. Nicht für Hamlet. Nichtsein kann auch Scheinen heißen.«
» Was zu scheinen?«
»Einfach nur zu scheinen.« Ich stand auf. Fürchterlich mit den Knöcheln knackend, fing ich an, auf und ab zu laufen. »Der entscheidende Hinweis findet sich ganz am Anfang des Stücks, wo Hamlet sagt: ›Scheint, gnäd’ge Frau? Nein, ist; mir gilt kein scheint.‹ Denken Sie darüber nach. In Dänemark ist etwas faul. Eigentlich müssten alle um Hamlets Vater trauern. Vor allem seine Mutter. Und er, Hamlet, müsste König sein. Stattdessen feiert Dänemark die Hochzeit seiner Mutter mit seinem verhassten Onkel, der den Thron an sich gerissen hat.
Was ihn am meisten aufbringt, ist der geheuchelte Gram, das Scheinen , die schwarzen Kleider von Leuten, die es gar nicht erwarten können, an den Hochzeitstafeln zu schwelgen und sich wie die Tiere in ihren Betten zu vergnügen. Von einer solchen Welt will Hamlet nichts wissen. Er will sich nicht verstellen. Er weigert sich zu scheinen . Er ist .
Dann erfährt er von dem Mord an seinem Vater. Er schwört Rache. Doch von diesem Zeitpunkt an betritt er die Welt des Scheinens. Sein erster Schritt ist, ›ein wunderliches Wesen anzulegen‹: Er stellt sich verrückt. Als Nächstes hört er ehrfürchtig zu, wie ein Schauspieler um Hekuba weint. Dann erklärt er den Schauspielern, wie sie sich überzeugend verstellen können. Er schreibt ihnen sogar einen Text, den sie aufführen sollen, eine Szene, die er angeblich für beruhigend hält, die aber in Wirklichkeit den Mord an seinem Vater nachspielt, um seinen Onkel zum Eingeständnis seiner Schuld zu bewegen.
So begibt er sich in den Bereich der Schauspielerei, des Scheinens. Für Hamlet ist Sein oder Nichtsein nicht Sein oder Nichtexistieren, sondern Sein oder Scheinen : Das ist die Entscheidung, vor der er steht. Scheinen heißt sich verstellen, eine Rolle spielen. Das ist die Lösung des ganzen Hamleträtsels, direkt vor der Nase des Zuschauers. Nichtsein ist Scheinen, und Scheinen ist Agieren. Sein heißt also nicht zu handeln . Daher seine Lähmung! Hamlet ist entschlossen, nicht zu scheinen , und das heißt, nicht zu handeln . Wenn er an diesem Entschluss festhält, wenn er nur sein möchte, kann er nicht handeln . Aber wenn er zu den Waffen greifen will, um seinen Vater zu rächen, muss er handeln – er muss sich für das Scheinen und gegen das Sein entscheiden.« Ich blickte mein einsames Publikum an.
»Ich verstehe«, sagte sie. »Weil er täuschen muss, um an seinen Onkel heranzukommen.«
»Ja, genau. Aber das Ganze hat auch etwas Allgemeingültiges. Alles Handeln ist immer eine Aufführung. Und jede Aufführung ist immer ein Handeln. Kunst ist Können, aber auch Täuschung. Alles hat zwei Seiten. Wenn wir in der Welt eine Rolle spielen wollen, müssen wir agieren, agieren im Sinn von handeln, aber auch im Sinn von schauspielern.
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