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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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hatten keine Amnesie?«
    »Ich hab nur so getan.«
    Das Mädchen blickte zu mir auf. Ich hatte die eigenartige Empfindung, eine völlig fremde Person vor mir zu haben. Ich versuchte, mein Wissen oder das, was ich dafür hielt, an die neuen Fakten anzupassen. Mit aller Kraft rang ich darum, den verschiedenen Ereignissen der letzten Woche eine neue, in sich schlüssige Ordnung zu geben. Aber es gelang mir nicht. »Warum?«
    Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe.
    »Sie wollten Banwell ruinieren?«, fragte ich. »Sie wollten sagen, dass er es war?«
    »Ja.«
    »Aber das war gelogen.«
    »Ja. Aber der Rest – fast alles – war wahr.«
    Sie schien um mein Mitgefühl zu bitten. Doch ich fand keins in mir. Kein Wunder, dass das Muster der Übertragung nicht auf sie zutraf. Ich hatte sie überhaupt nicht behandelt. »Sie haben mich zum Narren gehalten.«
    »Das war nicht meine Absicht. Ich konnte einfach nicht … es ist so …«
    »Alles, was Sie mir erzählt haben, war gelogen.«
    »Nein. Er wollte mich wirklich in Besitz nehmen, als ich vierzehn war. Und als ich sechzehn war, hat er es wieder versucht. Und ich habe auch meinen Vater mit Clara gesehen. Hier in diesem Zimmer.«
    »Sie haben mir doch erzählt, dass Sie Ihren Vater und Clara im Sommerhaus der Banwells gesehen haben.«
    »Ja.«
    »Warum haben Sie in diesem Punkt gelogen?«
    »Ich habe nicht gelogen.«
    Mir drehte sich der Kopf. Dann fiel es mir ein: Das Sommerhaus ihrer Eltern war in den Berkshires in Massachusetts. Wir befanden uns gar nicht im Cottage ihrer Eltern. Wir waren in der Sommerresidenz der Banwells. Die Bediensteten kannten sie nicht deshalb, weil es ihre waren, sondern weil sie sich so oft hier aufhielt. Die Realität der Situation bekam immer mehr Sprünge. Ich stand auf. Sie nahm mich bei den Händen und blickte zu mir auf.
    »Sie haben sich diese Verletzungen selbst zugefügt.« Meine Stimme klang brüchig. »Sie haben sich ausgepeitscht, Sie haben sich gekratzt, Sie haben sich verbrannt.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Eine Reihe von Erinnerungen ging mir durch den Kopf. Zum einen, wie ich Nora in den Wagen vor dem Hotel geholfen hatte. Meine Hände hatten sich fast ganz um ihre Taille geschlossen, auch um ihr unteres Rückgrat, aber sie war nicht zusammengefahren. Auch als ich sie am Hals berührte, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen – eine Lüge, wie ich jetzt wusste -, hatte ich sie am unteren Rücken gehalten, und sie hatte nicht gezuckt. »Sie haben gar keine Verletzungen. Sie haben sie nur vorgetäuscht. Sie haben sie aufgemalt und niemandem erlaubt, Sie zu berühren. Sie sind nie überfallen worden.«
    »Nein«, antwortete sie.
    »Nein, Sie sind nicht, oder nein, Sie sind überfallen worden?«
    »Nein«, wiederholte sie.
    Ich packte sie so fest an den Handgelenken, dass sie ächzte. »Ich stelle Ihnen jetzt eine ganz einfache Frage: Sind Sie ausgepeitscht worden? Mir ist egal, wer es war. Sind Sie von irgendeinem Mann – wenn nicht von Banwell, dann von jemand anders – ausgepeitscht worden? Ja oder nein. Reden Sie.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Doch. Nein. Doch. So fest, dass ich fast gestorben wäre.«
    Wenn nicht alles so furchtbar gewesen wäre, hätte ich fast lachen können darüber, wie sie in fünf Sekunden viermal ihre Geschichte änderte. »Zeigen Sie mir Ihren Rücken.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Sie wissen doch von Dr. Higginson, dass es wahr ist.«
    »Dann haben Sie ihn eben auch hinters Licht geführt.« Ich packte ihr Kleid am Ausschnitt und zerriss es mit einem Ruck, sodass es ihr über die Schultern fiel. Sie zuckte zusammen, blieb aber stehen, ohne sich zu wehren. Ihre Schultern waren unverletzt. Ich sah den Ansatz ihres Busens, nackt, unversehrt. Ich drehte sie um. Auch auf dem Rücken waren keine Wunden zu erkennen, aber ich sah nur ihre Schulterblätter. Darunter war sie von einem weißen, eng geschnürten Korsett umhüllt.
    »Wollen Sie mir auch noch das Mieder herunterreißen?«
    »Nein, ich habe genug gesehen. Ich fahre zurück in die Stadt, und Sie kommen mit mir.« Es war durchaus denkbar, dass sie doch in ein Sanatorium gehörte. Wenn nicht, dann wusste ich auch nicht, wohin sie gehörte – auf jeden Fall in die Obhut von jemandem, und dieser Jemand wollte nicht ich sein. Und ich wollte auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, sie in Banwells Landhaus entführt zu haben. »Ich bringe Sie nach Hause.«
    »Na schön«, antwortete

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