Morddeutung: Roman (German Edition)
Verhör somit in Beckers Zuständigkeit fiel. Trotzdem war der Detective verwirrt. Chong hatte doch gestern schon gestanden. Er hatte zugegeben, dass sein Cousin Leon das Mädchen in seinem Beisein umgebracht hatte. Das hatte der Bürgermeister berichtet. Was hatte Becker letzte Nacht noch von ihm gewollt?
Der Gefängniswärter konnte ihm diese Frage beantworten. Becker war es, der Chong zu seinem ersten Geständnis gebracht hatte. Aber Chong wollte nicht zugeben, an dem Mord mitgewirkt zu haben. Er beharrte darauf, Leons Zimmer erst nach dem Tod des Mädchens betreten zu haben.
»Und das hat ihm Becker nicht abgenommen?«, fragte Littlemore.
Der Wärter summte vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Hat ihn durch die Mangel gedreht. Die ganze Nacht, wie gesagt. Das hätten Sie sehen sollen.«
Als sich der schlafende Chong Sing auf der Pritsche umdrehte, kam ein dunkelrotes, zur Größe einer Pflaume angeschwollenes rechtes Auge zum Vorschein. Unter Sings Nase und Ohr klebte eingetrocknetes Blut. Littlemore konnte nicht mit Sicherheit erkennen, ob die Nase gebrochen war.
»Meine Güte«, bemerkte der Detective. »Ist Chong eingeknickt?«
»Mm-mm.«
Littlemore ließ sich die Zelle aufsperren. Er weckte den schlafenden Gefangenen. Der Detective zog sich einen Stuhl heran und zündete sich eine Zigarette an. Auch dem Chinesen hielt er eine hin. Chong beäugte den Besucher misstrauisch, nahm aber die Zigarette.
»Ich weiß, dass Sie Englisch verstehen, Mr. Chong«, begann Littlemore. »Ich kann Ihnen vielleicht helfen. Beantworten Sie mir nur ein paar Fragen. Wann haben Sie Ihre Arbeit im Balmoral angefangen – Ende Juli?«
Chong Sing nickte.
»Und unten an der Brücke?«
»Ungefähr gleich«, antwortete Chong heiser. »Vielleicht später paar Tage.«
»Wenn Sie nicht dabei waren, Chong, wie haben Sie es dann gesehen?«
»Häh?«
»Wenn Sie erst nach dem Mord an dem Mädchen in Leons Zimmer gegangen sind, woher wissen Sie dann, dass er sie umgebracht hat?«
»Ich schon sagen«, erwiderte der Chinese. »Ich hören Streit. Ich schauen durch Schlüsselloch.«
Littlemore blickte hinüber zu dem Wärter, der bestätigte, dass Chong gestern die gleiche Aussage gemacht hatte. Der Detective wandte sich wieder Chong Sing zu. »Stimmt das wirklich?«
»Das stimmen.«
»Nein, es stimmt nicht. Ich war dort, Mr. Chong, erinnern Sie sich? Ich bin zu Leons Zimmer gegangen und hab das Schloss geknackt. Ich habe selbst durchs Schlüsselloch geschaut. Da kann man überhaupt nichts erkennen.«
Chong blieb stumm.
»Wie sind Sie an diese Arbeit gekommen, Chong? Wie kann es sein, dass Sie gleich zwei Stellen bei Mr. Banwell hatten?«
Der Chinese zuckte die Achseln.
»Chong, ich versuche, Ihnen zu helfen.«
»Leon«, sagte Chong leise. »Er besorgen Arbeit für mich.«
»Woher hat Leon Banwell gekannt?«
»Ich nix wissen.«
»Sie wissen es nicht?«
»Ich nix wissen«, beharrte Chong. »Ich niemand umbringen.«
Littlemore stand auf und bedeutete dem Wärter, die Zelle wieder aufzuschließen. »Ich weiß, dass Sie es nicht waren.«
Das Sommerhäuschen der Actons war ein Cottage im Newporter Sinn des Wortes, das heißt ein Anwesen, das mit den Standards einer europäischen Adelsfamilie wetteiferte, wenn es sie nicht sogar übertraf. Eigentlich hatte ich vorgehabt, gleich wieder in die Stadt zurückzukehren, nachdem ich Nora bis zur Tür geleitet hatte, aber ich brachte es nicht über mich. Nicht einmal hier wollte ich sie allein lassen.
Die Bediensteten begrüßten Nora herzlich und machten sich sofort geschäftig daran, Türen und Fenster zu öffnen. Anscheinend wussten sie nichts von den Qualen, die Nora ausgestanden hatte. Obwohl sie kaum ein Wort sprach, legte sie offensichtlich großen Wert darauf, mir alles zu zeigen. Sie führte mich durchs Erdgeschoss des Hauptgebäudes. Von der Galerie der doppelstöckigen Eingangshalle führte eine zweiflügelige Marmortreppe hinauf. Rechts befand sich eine Buntglaskuppel, links eine achteckige Bibliothek mit sichtbaren Deckenbalken. Überall fiel der Blick auf Marmorsäulen und vergoldeten Stuck.
Nach hinten gab es eine Veranda mit gefliester Decke. Eine Wiese mit grünem Gras und hohen Eichen senkte sich sanft hinab bis zum Fluss. Das Mädchen trat hinaus ins Grüne. Ich folgte ihr, und bald waren wir beim Stall angelangt, wo die Luft angenehm nach Pferden und frischem Heu duftete. Wie sich herausstellte, hatte sich die Köchin bereits erlaubt, einen Picknickkorb
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