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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Nehmen wir zum Beispiel einen Mann, der eine Frau psychoanalytisch behandelt. Wenn er diese Rolle aufgibt, nimmt er eine andere ein: Freund, Geliebter, Ehemann, was auch immer. Wir können uns aussuchen, welche Rolle wir spielen, aber mehr nicht.«
    Nora hatte die Augenbrauen zusammengezogen. »Auch ich habe agiert. Ich habe Ihnen was vorgespielt.«
    So geht es manchmal. Der Augenblick der Wahrheit bricht über einen herein, wenn man tief in ein anderes Geschehen verstrickt und entsprechend abgelenkt ist. Ich glaubte sofort zu wissen, wovon sie sprach: ihre geheime Fantasie über ihren Vater, die sie mir gestern gestanden hatte, die sie aber natürlich lieber verheimlicht hätte. »Es ist meine Schuld«, erwiderte ich. »Ich wollte die Wahrheit nicht hören. Auch mit Hamlet ist es mir lange so ergangen. Ich wollte nicht wahrhaben, dass Freuds Auffassung des Stücks richtig ist.«
    »Dr. Freud hat eine Meinung zu Hamlet?«
    »Ja, es ist … was ich Ihnen erzählt habe. Dass Hamlet den geheimen Wunsch hat … mit seiner Mutter zu schlafen.«
    »Das meint Dr. Freud?«, rief sie. »Und Sie glauben es? Wie abstoßend.«
    »Ja, schon, aber ich bin ein wenig erstaunt, dass Sie das sagen.«
    »Wieso?«
    »Dessentwegen, was Sie mir gestern anvertraut haben.«
    »Was habe ich Ihnen anvertraut?«
    »Sie haben die gleiche Art von inzestuösem Wunsch zugegeben.«
    »Sie sind verrückt.«
    Ich senkte die Stimme, aber meine Worte klangen ziemlich scharf. »Miss Acton, Sie haben mir gestern im Park in deutlichen Worten erzählt, dass Sie eifersüchtig waren, als Sie Clara Banwell mit Ihrem Vater gesehen haben. Sie haben gesagt, sie wären gern diejenige gewesen, die …«
    Sie lief dunkelrot an. »Hören Sie auf! Ja, ich habe gesagt, dass ich eifersüchtig war, aber doch nicht auf Clara! Wie abscheulich! Ich war eifersüchtig auf meinen Vater!«
    Wir standen uns gegenüber, nur die kleine Wolldecke zwischen uns. Zwei Eichhörnchen, die ausgelassen um einen Baumstamm in der Nähe herumgetollt waren, erstarrten und beäugten uns misstrauisch. »Deswegen haben Sie gesagt, dass Sie schlecht sind?«
    »Ja«, flüsterte sie.
    »Das ist nicht schlecht«, versicherte ich ihr. »Zumindest nicht im Vergleich.«
    Sie fand meine Bemerkung überhaupt nicht amüsant. Ich berührte ihre Wange. Sie senkte den Blick. Mit der Hand unter ihrem Kinn hob ich ihr Gesicht zu meinem und beugte mich zu ihr. Sie stieß mich von sich.
    »Lassen Sie das.«
    Sie wollte mir nicht in die Augen sehen. Sie entfernte sich von mir und machte sich daran, die Überreste der Picknicksachen im Korb zu verstauen und die Krümel von der Decke zu schütteln. Schweigend ritten wir zum Stall und kehrten zum Haus zurück.
    So war es. All meine hehren ethischen Bedenken dagegen, Noras Übertragungsinteresse auszunutzen – falls dieses Interesse überhaupt bestand -, waren sofort verflogen, als ich entdeckte, dass sie sich nicht zu einem inzestuösen Wunsch bekannt hatte, sondern zu einem sapphischen. Es war mir peinlich, dies an mir festzustellen, aber die Sache hatte ihre Logik. Als ich die Wahrheit begriffen hatte, hatte ich nicht mehr das Gefühl, Nora würde ihren Vater küssen, wenn sie mich küsste. Vielleicht hätte ich mir sagen sollen, dass sie dann eben Clara küssen würde, aber so fühlte es sich nicht an. Im Hauptgebäude war es jetzt ruhig. Draußen stand still die sommerliche Luft, und die großen Zimmer waren schattig und leer. Die Läden vor den Fenstern waren alle geschlossen, wahrscheinlich damit die Sonne nicht auf Gardinen und Möbel schien. Gedankenversunken und schweigend führte mich Nora in die achteckige Bibliothek mit den prächtig geschnitzten Balken. Sie schloss die Tür hinter uns und zeigte auf einen Sessel. Ich deutete es als Aufforderung, mich zu setzen. Nora kniete sich vor mir auf den Boden.
    Zum ersten Mal, seit sie mich von sich gestoßen hatte, redete sie mich an. »Wissen Sie noch, wie wir uns kennengelernt haben? Als ich nicht sprechen konnte?«
    Es gelang mir nicht, in ihrem Gesicht zu lesen. Sie wirkte zugleich reuig und unschuldig. »Natürlich weiß ich das noch.«
    »Ich hatte meine Stimme nicht verloren.«
    »Wie bitte?«
    »Ich hab nur so getan.«
    Ich bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, wie trocken sich mein Mund plötzlich anfühlte. »Deswegen konnten Sie am nächsten Morgen wieder reden.«
    Sie nickte.
    »Warum?«
    »Und mein Gedächtnisverlust.«
    »Was ist damit?«
    »War auch nicht echt«, gestand sie.
    »Sie

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