Morddeutung: Roman (German Edition)
sie.
»Ach, haben Sie auf einmal keine Angst mehr, dass Sie in eine Anstalt gesperrt werden? War das auch nur eine Lüge?«
»Nein, es stimmt. Aber ich muss hier weg.«
»Halten Sie mich für einen kompletten Idioten?« Ich wusste, dass die Antwort ja lautete. »Wenn Sie in Gefahr wären, in eine Anstalt gebracht zu werden, würden Sie sich weigern, dieses Haus zu verlassen.«
»Ich kann hier nicht übernachten. Mr. Banwell wird bald herausfinden, dass ich hier bin. Kann sein, dass die Bediensteten am Abend vom Ort aus ein Telegramm schicken.«
»Na und?«
»Er wird herkommen, um mich umzubringen«, sagte sie.
Ich lachte geringschätzig, aber sie blickte nur zu mir auf. Ich schaute so tief in ihre lügnerischen blauen Augen, wie es ging. Entweder glaubte sie selbst an ihre Worte, oder sie war die beste Schwindlerin, der ich je begegnet war – und dass das so war, wusste ich ja bereits. »Sie halten mich wahrscheinlich wieder zum Narren, aber ich glaube Ihnen jetzt einfach, dass Sie es ernst meinen. Banwell weiß, dass Sie ihn als Ihren Angreifer angezeigt haben; vielleicht haben Sie wirklich Grund, ihn zu fürchten, auch wenn Sie den Überfall erfunden haben. Auf jeden Fall ein Grund mehr, Sie nach Hause zu bringen.«
»Aber so kann ich nicht fahren.« Sie blickte auf ihr zerrissenes Kleid. »Ich suche mir was von Clara aus. Warten Sie auf mich?«
Als sie zur Tür trat, rief ich ihr nach: »Warum haben Sie mich überhaupt hergebracht?«
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen.« Sie rannte die Marmortreppe hinauf und presste sich mit beiden Händen das Kleid vor die Brust. Zum Glück tauchte niemand von der Dienerschaft auf, der sie hätte sehen können. Wahrscheinlich hätte er die Polizei gerufen und eine Vergewaltigung gemeldet.
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
»Ich behaupte ja nicht, dass er sie umgebracht hat, Mr. Mayor. Ich behaupte nur, dass er was verbirgt.« Detective Littlemore hatte am späten Freitagnachmittag im Büro des Bürgermeisters vorgesprochen. Die Rede war von George Banwell.
»Was haben Sie für Beweise?«, wollte McClellan aufgebracht wissen. »Fassen Sie sich kurz, Mann. Ich habe nur fünf Minuten für Sie.«
Littlemore überlegte, ob er dem Bürgermeister von dem Schrankkoffer erzählen sollte, den er und Younger im Senkkasten gefunden hatten. Aber er entschied sich dagegen, weil in dem Koffer bisher nichts Eindeutiges aufgetaucht war und weil er eigentlich nicht in den Senkkasten hinabfahren hätte dürfen. »Gerade habe ich Meldung von Gitlow aus Chicago erhalten, Sir. Er hat bei der dortigen Polizei nachgefragt. Er hat im Adressbuch der Stadt nachgeschlagen. Er hat im Prominentenverzeichnis nachgeschaut. Sie stammt nicht aus Chicago, Sir. In Chicago hat noch nie jemand was von Elizabeth Riverford gehört.«
Der Bürgermeister musterte den Detective mit einem langen, scharfen Blick. »Ich war Sonntagnacht mit George Banwell zusammen. Das habe ich Ihnen jetzt schon dreimal erklärt.«
»Ich weiß, Sir. Und sicher könnte Miss Riverford auch nicht dabei gewesen sein – da, wo Sie waren, meine ich -, ohne dass Sie etwas davon bemerkt hätten.«
»Was?«
»Es ist natürlich ausgeschlossen, dass Mr. Banwell Miss Riverford heimlich mitgenommen, sie ungefähr um Mitternacht getötet und die Leiche anschließend wieder in die Stadt gebracht hat, um sie in ihre Wohnung zu schaffen, damit es so aussieht, als wäre sie dort ermordet worden. Wenn Sie verstehen, was ich meine, Mr. Mayor.«
»Gütiger Himmel, Detective.«
»Es ist nur, dass ich nicht weiß, wo Sie waren, wie Mr. Banwell hingekommen ist und ob Sie die ganze Zeit über zusammen waren.«
McClellan atmete tief durch. »Also schön, Mr. Littlemore. Am Sonntagabend habe ich mit Charles Murphy im Grand View Hotel in der Nähe von Saranac gespeist. Das Dinner wurde am gleichen Tag arrangiert – von George Banwell persönlich. Mr. Haffen war ebenfalls zugegen.«
Littlemore wusste nicht, was er davon halten sollte. Boss Murphy war der Chef der Tammany Hall. Louis Haffen, der ebenfalls zur Tammany-Riege gehörte, war Bezirksleiter der Bronx gewesen – bis letzten Sonntag. »Aber Sie haben Haffen doch gerade aus dem Amt jagen lassen, Sir. Von Gouverneur Hughes.«
»Hughes war zusammen mit Gouverneur Fort ein paar Häuser weiter bei Mr. Colgate.«
»Ich verstehe nicht, Sir.«
»Ich war dort, um zu hören, welche Bedingungen Murphy stellen würde als Gegenleistung für meine Nominierung zum Tammany-Kandidaten fürs
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