Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
Vom Netzwerk:
doch gestern Abend schon um neun schlafen gegangen.«
    Während wir anderen uns nach einem gemeinsamen Abendessen erst weit nach Mitternacht zurückgezogen hatten, war Jung gleich nach unserer Ankunft in sein Zimmer verschwunden und nicht mehr heruntergekommen. Freud fragte Jung, ob es ihm nicht gut ging. Als Jung antwortete, dass es nur wieder seine Kopfschmerzen waren, bat mich Freud, Jung zurück ins Hotel zu begleiten. Doch Jung lehnte jede Hilfe ab und beharrte darauf, dass er den Weg mühelos finden würde. So nahm er den Zug zurück, während wir anderen ohne ihn weiterfuhren.

     
    Als Detective Jimmy Littlemore am Montagabend erneut vor dem Balmoral ankam, hatte einer der Portiers gerade seine Arbeit aufgenommen. Dieser Mann hieß Clifford und hatte auch in der vergangenen Nacht Dienst gehabt. Littlemore fragte ihn, ob er die verstorbene Miss Riverford gekannt hatte.
    Offensichtlich hatte Clifford noch keine Anweisung bekommen, den Mund zu halten. »Klar erinnere ich mich an die. Zum Anbeißen, die Kleine.«
    »Haben Sie mal mit ihr geredet?«, erkundigte sich Littlemore.
    »Die hat nicht viel geredet – zumindest nicht mit mir.«
    »Erinnern Sie sich an irgendwas Besonderes an ihr?«
    »Hab ihr manchmal am Morgen die Tür aufgehalten«, antwortete Clifford.
    »Was ist daran besonders?«
    »Ich hab um sechs Schluss. Um diese Zeit sieht man sonst außer Arbeiterinnen keine Frauen, und wie eine Arbeiterin hat Miss Riverford nicht grad ausgesehen, wenn Sie wissen, was ich meine. Das heißt, sie ist um fünf oder halb sechs noch raus.«
    »Wohin ist sie gegangen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Und letzte Nacht? Ist Ihnen da was Ungewöhnliches aufgefallen?«
    »Was meinen Sie mit ungewöhnlich?«, fragte Clifford zurück.
    »Irgendwas, das anders war, irgendwer, den Sie vorher noch nie gesehen haben.«
    »Da war so ein Typ. Ist nach Mitternacht aus dem Haus gekommen. Hatte es ziemlich eilig. Hast du den Typ auch gesehen, Mac? Irgendwas an dem war nicht ganz sauber, wenn du mich fragst.«
    Der mit Mac angesprochene Türsteher schüttelte den Kopf.
    »Kippe?«, sagte Littlemore zu Clifford, der die Zigarette annahm und in die Tasche schob, weil er seinem Laster im Dienst nicht frönen durfte. »Warum war an dem was nicht ganz sauber?«
    »War eben so. Ausländer vielleicht.« Clifford war nicht in der Lage, seinen Verdacht in deutlichere Worte zu kleiden, war sich jedoch völlig sicher, dass der Mann nicht im Balmoral wohnte. Littlemore nahm seine Beschreibung auf: schwarzes Haar, groß, schlank, gut gekleidet, hohe Stirn, Mitte bis Ende dreißig, Brille, eine Art schwarzer Koffer in der Hand. Der Mann war vor dem Gebäude in eine Pferdedroschke gestiegen und Richtung Süden gefahren. Littlemore befragte die Türsteher noch weitere zehn Minuten – keiner von beiden erinnerte sich daran, Cliffords Mann beim Betreten des Hauses beobachtet zu haben, aber er konnte ohne Weiteres zusammen mit einem Bewohner hinaufgegangen sein – und erkundigte sich dann, wo er die Dienstmädchen des Balmoral finden konnte. Sie schickten ihn nach unten.
    Im Keller stieß Littlemore in einem stickigen, niedrigen Raum, an dessen Wänden Rohre verliefen, auf eine Schar von Bediensteten, die Wäsche zusammenfalteten. Alle kannten Miss Riverfords Mädchen: Betty Longobardi. Flüsternd vertrauten sie dem Detective an, dass er Betty hier nicht mehr vorfinden würde. Sie war weg. Betty war am Vormittag verschwunden, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden. Warum, wussten sie nicht. Betty war nicht ganz einfach, aber im Grunde ein liebes Mädchen. Sie ließ sich nichts gefallen, auch nicht vom Verwalter, erfuhr Littlemore. Vielleicht hatte sie wieder mit ihm gestritten. Eine der Frauen wusste, wo Betty wohnte. Nachdem er sich die Adresse notiert hatte, wandte sich Littlemore zum Gehen. Da bemerkte er den Chinesen.
    Gekleidet in ein weißes Unterhemd und eine dunkle, kurze Hose, hatte der Mann mit einem Weidenkorb voll frisch gewaschenem Bettzeug den Raum betreten. Nachdem er den Inhalt des Korbes auf einem dafür vorgesehenen Tisch abgelegt hatte, steuerte er wieder auf die Tür zu. In diesem Moment wurde der Detective auf ihn aufmerksam. Littlemore starrte auf die kräftigen Waden und die Sandalen des sich entfernenden Mannes. An sich waren diese nicht besonders interessant, ebenso wenig wie sein Gang, bei dem ein Fuß dem anderen schlurfend nachgezogen wurde. Faszinierend war dagegen das Ergebnis des Zusammenspiels beider Faktoren. Der Mann

Weitere Kostenlose Bücher