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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Reichtums lag darin, dass sie schon im Voraus das Erscheinen einiger illustrer, aber käuflicher Gäste sicherstellte, die sich nicht an Mrs. Astors Regeln gebunden fühlten. Dazu gehörten etliche englische Damen, eine Batterie deutscher Barone, eine Gruppe italienischer Grafen und ein ehemaliger US-Präsident. Mit gezielten Anspielungen auf diese festen Zusagen sowie auf üppige und unerhörte Vergnügungen versandte Mrs. Vanderbilt insgesamt zwölfhundert Einladungen. Ihr bevorstehender Ball wurde zum Stadtgespräch.
    Besonders stark war die Vorfreude auf das große Fest ausgerechnet bei Carrie Astor, der Lieblingstochter von Mrs. Astor. Mit ihren Freundinnen hatte sie den ganzen Sommer lang eine Sternenquadrille eingeübt. Doch von den zwölfhundert Einladungen hatte Carrie Astor keine einzige erhalten. Ihre Freundinnen waren alle eingeladen – sie besprachen schon ganz aufgeregt die Kleider für die Quadrille -, und Carrie war völlig aufgelöst vor Verzweiflung. Vor jedem, der es hören wollte, brachte Mrs. Vanderbilt ihre Sympathie für das bedauernswerte Geschöpf zum Ausdruck, aber wie sollte sie Carrie denn einladen, so fragte die Gastgeberin alle Welt, da sie der Mutter des Mädchens noch nie vorgestellt worden war?
    So geschah es, dass Mrs. William Backhouse Astor an einem Nachmittag der Wintersaison 1883 ihren Wagen nahm und von ihrem in eine blaue Livree gekleideten Diener in der 660 Fifth Avenue eine geprägte Karte präsentieren ließ. Das verschaffte Mrs. Vanderbilt die beispiellose Gelegenheit, die große Caroline Astor zu brüskieren, eine Gelegenheit, die für eine weniger weitblickende Frau sicherlich unwiderstehlich gewesen wäre. Aber Mrs. Vanderbilt schickte den Astors umgehend eine Einladung zum Ball, und so kam Carrie doch noch zu ihrem Vergnügen – in Begleitung ihrer Mutter, die eine 200.000 Dollar teure Diamantenkorsage trug, und der anderen auserwählten vierhundert von Mrs. Astor.
    Zur Jahrhundertwende hatte sich die New Yorker Gesellschaft von einer Knickerbocker-Bastion in ein unbeständiges Gemisch aus Macht, Geld und Berühmtheit verwandelt. Jeder mit einem Vermögen von hundert Millionen konnte sich durch entsprechende Freigebigkeit Zutritt verschaffen. Herren aus der höheren Gesellschaft trafen mit Revuegirls zusammen. Damen der höheren Gesellschaft verließen ihre Ehemänner. Selbst Mrs. Vanderbilt war nicht mehr Mrs. Vanderbilt: Sie hatte schockierenderweise die Scheidung eingereicht, um Mrs. Oliver H. P. Belmont zu werden. Mrs. Astors Tochter Charlotte, ihres Zeichens Mutter von vier Kindern, brannte mit ihrem Liebhaber nach England durch. Drei Söhne und ein Enkel des Multimillionärs Jay Gould heirateten Schauspielerinnen. James Roosevelt machte eine Prostituierte zu seiner Frau. Sogar ein Mörder konnte ein gefeierter Gast sein, wenn er aus dem richtigen Geblüt stammte. Harry Thaw war zwar der Erbe eines bescheidenen Pittsburgher Bergbauunternehmens, aber er wäre in New York niemals zur Berühmtheit geworden, wenn er nicht 1906 auf dem Dach des Madison Square Garden den angesehenen Architekten Stanford White umgebracht hätte. Obwohl Thaw dem sitzenden White vor den Augen von Hunderten Gästen mitten ins Gesicht geschossen hatte, wurde er zwei Jahre später von einem Geschworenengericht wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen. Einige Beobachter merkten dazu an, dass amerikanische Geschworene niemals einen Mann wegen Mordes an dem Schurken verurteilen würden, der mit seiner Frau ins Bett gegangen war. Allerdings muss der Gerechtigkeit halber hinzugefügt werden, dass Whites Liaison mit der fraglichen Dame in eine Zeit fiel, als sie noch nicht die respektable Mrs. Harry Thaw war, sondern ein sechzehnjähriges, lediges Revuegirl. Andere vertraten die Meinung, dass diese Geschworenen einem Schuldspruch deshalb so besonders abgeneigt waren, da sie es nach dem Empfang von beträchtlichen Geldsummen durch Thaws Anwalt einfach nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, sich den Argumenten seines Plädoyers zu verschließen.
    Im Sommer zogen sich die Reichen aus Manhattan in Marmorpaläste in Newport und Saratoga zurück, wo Segeln, Reiten und Kartenspielen zu den Hauptbeschäftigungen zählten. In dieser Zeit konnten die führenden Familien noch den Beweis antreten, dass sie die Elite des Landes waren. Der junge Harold Vanderbilt, der im Haus an der 660 Fifth Avenue aufgewachsen war, konnte dreimal den America’s Cup gegen britische Angriffe verteidigen. Außerdem

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