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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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– eigentlich viel zu warm für die Hitze. Keine Sekunde ließ er den Blick von ihr, während sie die Straße überquerte und die Stufen zum Stadthaus ihrer Eltern erklomm – ein stattlicher Kalksteinbau mit zwei Löwenskulpturen, die zu beiden Seiten über den Eingang wachten. Er sah, dass das Mädchen die Tür öffnete, ohne aufzusperren.
    Dem Mann war nicht entgangen, dass die beiden alten Diener das Haus verlassen hatten. Nach einem vorsichtigen Blick nach links, nach rechts und über die Schulter setzte er sich in Bewegung. Rasch näherte er sich dem Gebäude und stieg die Treppe hinauf. Oben stellte er fest, dass die Tür noch immer unverriegelt war.
    Eine halbe Stunde später wurde die abendliche Sommerstille im Gramercy Park von einem Schrei zerrissen, dem Schrei einer jungen Frau. Er hallte von einem Ende der Straße zum anderen und hing länger in der Luft, als man es für möglich gehalten hätte. Kurz darauf polterte der Mann durch die Hintertür des Kalksteinbaus. Ein metallener Gegenstand, nicht größer als eine kleine Münze, glitt ihm aus den Händen, als er die Hintertreppe hinuntertaumelte. Der Gegenstand traf auf eine Schieferplatte und hüpfte erstaunlich hoch in die Luft. Auch der Mann wäre fast zu Boden gestürzt, doch er fing sich gerade noch. Dann rannte er vorbei am Schuppen und verschwand durch den Garten und die Seitengasse hinter dem Grundstück.
    Mr. und Mrs. Biggs hörten den Schrei. Sie kamen gerade, beladen mit Lebensmitteln und Blumen, von ihrem Einkauf zurück. Voller Entsetzen stolperten sie ins Haus und die Treppe hinauf, so schnell es ihre alten Knochen erlaubten. Im ersten Stock stand die Tür des Hauptschlafzimmers offen, die sonst immer geschlossen war. Dort fanden sie das Mädchen. Mr. Biggs fielen die Einkaufstüten aus der Hand. Ein Pfund Mehl verteilte sich um seine alten schwarzen Schuhe und ließ eine kleine weiße Staubwolke aufsteigen, während eine gelbe Zwiebel bis zu den bloßen Füßen des Mädchens rollte.
    Sie stand mitten im Schlafzimmer ihrer Eltern, nur mit einem Höschen und Unterwäsche bekleidet, die nicht für die Augen von Dienern bestimmt waren. Ihre Beine waren nackt. Ihre langen, schlanken Arme waren über dem Kopf ausgestreckt, die Handgelenke mit einer dicken Schnur gefesselt. Diese war an einem Deckenhaken befestigt, von dem ein kleiner Kronleuchter hing. Die Finger des Mädchens berührten fast die Kristallprismen. Ihr Höschen war sowohl vorn als auch hinten zerrissen, wie von den Hieben einer Peitsche oder eines Stocks. Ein Herrenschal oder eine Krawatte in weißer Farbe war fest um ihren Hals und zwischen ihre Lippen geschlungen.
    Aber sie war nicht tot. Ihre Augen starrten wild, ohne etwas wahrzunehmen. Statt voller Erleichterung fixierte sie die vertrauten alten Diener mit einem Ausdruck des Schreckens, als wären sie Mörder oder Dämonen. Trotz der Hitze zitterte sie am ganzen Körper. Erneut setzte sie zu einem Schrei an, doch es drang kein Laut aus ihrer Kehle, aus der jede Kraft gewichen schien.
    Mrs. Biggs kam als Erste wieder zur Besinnung und schickte ihren Mann aus dem Zimmer, um einen Wachtmeister zu holen. Behutsam trat sie vor das Mädchen, um sie zu beruhigen und das Band um ihren Hals zu lösen. Kaum dass ihr Mund befreit war, bewegte er sich wie zum Sprechen, doch noch immer brachte sie keinen Laut hervor, keine Worte, nicht einmal ein Flüstern. Als die Polizeibeamten eintrafen, erfuhren sie voller Bestürzung, dass sie nicht reden konnte. Aber eine noch größere Überraschung stand ihnen bevor. Man brachte dem Mädchen Papier und Bleistift; sie sollte aufschreiben, was geschehen war. Ich kann nicht, schrieb sie. Warum nicht, fragten die Polizisten. Ihre Antwort: Ich kann mich nicht erinnern.

KAPITEL VIER
     
    Erst gegen sieben Uhr kehrten Freud, Ferenczi und ich am Montagabend ins Hotel zurück. Brill war müde und glücklich nach Hause weitergefahren. Ich glaube, Coney Island ist Brills Lieblingsort in Amerika. Er hat mir selbst erzählt, dass er mit fünfzehn völlig allein und mittellos in diesem Land ankam und damals ganze Tage und manchmal auch Nächte auf den Gehsteigen dort verbrachte. Trotzdem fand ich es nicht unbedingt zwingend, dass zu Freuds ersten Kostproben von New York ausgerechnet die Retortenbabyschau oder die mit dem verzückten Reklamespruch HEILIGER STROHSACK, IST DIE FETT! angepriesene Sechszentnerdame Jolly Trixie gehören mussten.
    Aber Freud schien begeistert und verglich das Ganze mit dem Wiener

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