Morddeutung: Roman (German Edition)
Prater – »nur ins Gigantische gesteigert«, wie er fand. Brill überredete ihn sogar, sich gegen Geld einen Badeanzug auszuleihen und mit uns in den riesigen Salzwasser-Swimmingpool im Steeplechase Park zu steigen. Wie sich herausstellte, war Freud ein besserer Schwimmer als Brill und Ferenczi, doch am Nachmittag bekam er Prostatabeschwerden. Aus diesem Grund ließen wir uns in einem Straßencafé nieder, wo wir, unterbrochen vom rasselnden Dröhnen der Achterbahnen und dem gleichmäßigeren Rauschen der Brandung, eine Unterhaltung führten, die ich nie vergessen werde. Brill hatte sich über die Behandlung hysterischer Frauen mokiert, wie sie von amerikanischen Ärzten praktiziert wurde: Massagekuren, Vibrationskuren, Wasserkuren. »Das Ganze ist zur einen Hälfte Quacksalberei und zur anderen Hälfte Sexindustrie.« Er beschrieb eine gewaltige Vibrationsmaschine, die ein Arzt aus seiner Bekanntschaft für vierhundert Dollar erworben hatte, und zwar kein Geringerer als ein Professor von der Columbia University. »Wissen Sie, was diese Ärzte in Wirklichkeit machen? Keiner gibt es offen zu, aber sie bringen ihre Patientinnen zum Höhepunkt.«
»Sie klingen so überrascht, Brill«, erwiderte Freud. »Die gleiche Methode hat Avicenna in Persien schon vor neunhundert Jahren angewandt.«
»Und hat er sich dabei auch an seinen Patientinnen bereichert?« Ein Anflug von Bitterkeit lag in Brills Stimme. »Manche von denen streichen im Monat tausend Dollar und mehr ein. Aber das Schlimmste ist ihre Heuchelei. Einmal habe ich diesen erhabenen Professor, der zufällig mein Vorgesetzter ist, darauf hingewiesen, dass das Funktionieren seiner Behandlungsmethode ein Beweis für die Richtigkeit der Psychoanalyse ist, weil damit die Verbindung zwischen Sexualität und Hysterie belegt wird. Seinen Gesichtsausdruck hätten Sie sehen sollen! Seine Behandlungsmethode hat nichts mit Sexualität zu tun, meinte er, rein gar nichts. Er gibt seinen Patientinnen lediglich die Gelegenheit, einen Überschuss an Nervenstimulation abzubauen. Wenn ich das anders sehe, beweist das nur die korrumpierende Wirkung von Freuds Theorien. Ich hatte Glück, dass er mich nicht gleich rausgeworfen hat.«
Freud lächelte nur. Von Bitterkeit oder Überempfindlichkeit wie bei Brill war ihm nichts anzumerken. Man durfte den Unwissenden keine Vorwürfe machen, erklärte er. Es ging hier ja nicht nur um die schwierige Enthüllung der Wahrheit über Hysterie, sondern auch um starke, über Jahrtausende hinweg angesammelte Verdrängungen, die nicht von heute auf morgen einfach verschwinden konnten. »Das ist exakt wie bei jeder anderen Krankheit. Erst wenn wir die Ursache verstehen, dürfen wir behaupten, das Leiden zu verstehen, und nur dann können wir es auch behandeln. Bislang ist ihnen die Ursache verborgen, sie befinden sich also noch im finsteren Mittelalter. Sie lassen ihre Patienten zur Ader und nennen es Medizin.«
Danach nahm die Unterhaltung eine denkwürdige Wendung. Freud fragte, ob er uns einen seiner neueren Fälle schildern dürfe, bei dem es um einen von Ratten besessenen Patienten ging. Natürlich sagten wir Ja.
Ich hatte noch nie jemanden gehört, der so sprach wie Freud. Er stellte den Fall mit solcher Geläufigkeit, Fundiertheit und Klugheit dar, dass wir über drei Stunden lang wie gebannt an seinen Lippen hingen. Immer wieder unterbrachen ihn Brill, Ferenczi oder ich mit Bedenken und Fragen, die seine Schlussfolgerungen in Zweifel zogen. Freud beantwortete jeden Einwand, bevor ihn der Fragende ganz ausgesprochen hatte. Noch nie in meinem gesamten Leben habe ich mich so lebendig gefühlt wie in diesen drei Stunden. Mitten unter den Marktschreiern, plärrenden Kindern und Vergnügungssuchenden in Coney Island bildeten wir vier, so war mein Eindruck, eine Vorhut, die die Fähigkeit des Menschen zur Selbsterkenntnis in ungeahnte Höhen trug, die unerschlossenes Terrain entdeckte und neue Wege ging, denen die Welt einst folgen würde. Alles, was die Menschheit über sich zu wissen glaubte – über Träume, Bewusstsein und ihre geheimsten Wünsche -, würde sich für immer verändern.
Im Hotel bereiteten sich Freud und Ferenczi auf das vereinbarte Abendessen bei Brill vor. Unglücklicherweise hatte ich für den Abend schon anderweitige Verpflichtungen. Auch Jung war eingeladen, aber nirgends zu finden. Freud bat mich, bei Jung anzuklopfen, was ich auch tat – ohne Erfolg. Nachdem sie bis acht gewartet hatten, brachen sie ohne ihn zu Brill
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