Morddeutung: Roman (German Edition)
Mamie. »Ach, warum musst du der Cousin meiner Marion sein? Ich hätte dich schon vor Jahren mit ihr verheiratet. Jetzt hör mir mal gut zu. Miss Crosby fragt schon alle Leute, wer du bist. Sie wird in diesem Jahr achtzehn, sie ist das zweithübscheste Mädchen von New York, und du bist immer noch der bestaussehende Mann – ich meine der bestaussehende ledige Mann. Du musst unbedingt mit ihr tanzen.«
»Ich habe schon mit ihr getanzt«, entgegnete ich, »und ich weiß aus sicherer Quelle, dass sie vorhat, Mr. de Menocal zu heiraten.«
»Aber ich möchte nicht, dass sie de Menocal heiratet«, protestierte Aunt Mamie. »De Menocal sollte doch Franz und Ellie Sigels Enkelin Elsie heiraten. Aber die ist nach Washington verschwunden. Und ich habe immer geglaubt, dass die Leute aus Washington verschwinden. Was hat sich das Mädchen nur dabei gedacht? Da kann man doch gleich in den Kongo durchbrennen. Hast du eigentlich Stuyvie schon Guten Tag gesagt?«
Stuyvie war natürlich ihr Mann Stuyvesant. Da ich Uncle Fish tatsächlich noch nicht begrüßt hatte, führte mich Aunt Mamie zu ihm. Er war gerade in ein ernstes Gespräch mit zwei Herren vertieft. Neben ihm erkannte ich Louis J. de G. Milhau, den ich als Kommilitonen in Harvard kennengelernt hatte. Der andere Mann war ungefähr fünfundvierzig und kam mir irgendwie bekannt vor, aber mir fiel nicht ein, woher. Mit seinem kurz geschnittenen Haar und den intelligenten Augen in dem bartlosen Gesicht strahlte er unverkennbare Autorität aus. Aunt Mamie löste mein Problem, als sie mir ins Ohr flüsterte: »Der Bürgermeister. Ich mache euch bekannt.«
Wie sich herausstellte, wollte Bürgermeister McClellan gerade aufbrechen. Aunt Mamie schrie empört auf: Er konnte sich doch Caruso nicht entgehen lassen! Eigentlich hasste sie die Oper, aber sie wusste, dass sie für den Rest der Welt der Inbegriff des guten Geschmacks war. McClellan entschuldigte sich und bedankte sich herzlich für ihr wohltätiges Engagement für die Stadt New York. Er beteuerte, dass es ihm nie einfallen würde, schon so früh zu gehen, wenn nicht eine äußerst ernste Angelegenheit seine sofortige Aufmerksamkeit erfordern würde. Daraufhin protestierte Aunt Mamie noch heftiger, diesmal gegen den Gebrauch des Ausdrucks »äußerst ernste Angelegenheit« in ihrer Gegenwart. Sie wollte nichts von äußerst ernsten Angelegenheiten hören, betonte sie und ergriff in einer Wolke aus Chiffon die Flucht.
Zu meiner Überraschung wandte sich Milhau an den Bürgermeister. »Younger hier ist Arzt. Warum schildern wir ihm nicht die ganze Sache?«
»Bei Gott«, rief Uncle Fish, »das stimmt. Noch dazu aus Harvard. Younger weiß bestimmt den Richtigen dafür. Erzählen Sie es ihm, McClellan.«
Nachdem er mich kurz gemustert hatte, kam der Bürgermeister offenbar zu einem Entschluss und stellte mir eine Frage. »Kennen Sie Acton, Younger?«
»Lord Acton?«
»Nein, Harcourt Acton am Gramercy Park. Es geht um seine Tochter.«
Anscheinend war Miss Acton, deren Eltern gerade außerhalb der Stadt weilten, vor einigen Stunden im Haus ihrer Familie Opfer eines brutalen Überfalls geworden. Der Täter war nicht gefasst und auch von niemandem sonst gesehen worden. Bürgermeister McClellan, der die Familie gut kannte, wollte von Miss Acton unbedingt eine Beschreibung des Verbrechers, doch das Mädchen war offenbar unfähig zu sprechen und erinnerte sich auch nicht, was ihr zugestoßen war. Der Bürgermeister musste dringend zurück ins Polizeihauptquartier, wo sich Miss Acton noch immer aufhielt. Sie befand sich in Begleitung ihres Hausarztes, der erklärt hatte, dass ihn der Zustand seines Schützlings vor ein Rätsel stellte. Er hatte keine körperlichen Verletzungen gefunden, die diese Symptome hätten verursachen können.
»Das Mädchen ist hysterisch«, erklärte ich. »Sie leidet unter Kryptomnesie.«
»Kryptomnesie?«, entfuhr es Milhau.
»Gedächtnisverlust durch Verdrängung eines traumatischen Erlebnisses. Der Begriff stammt von Dr. Freud aus Wien. Es handelt sich im Wesentlichen um ein hysterisches Leiden und tritt häufig auch zusammen mit Aphonie auf – Stimmverlust.«
»Bei Gott«, ließ sich Uncle Fish erneut vernehmen. »Hast du gerade Stimmverlust gesagt? Das ist es, genau!«
»Dr. Freud hat ein Buch über Sprachstörungen geschrieben«, fuhr ich fort. Freuds Darstellung der Aphasien war in Amerika schon lange vor seinen psychologischen Schriften bekannt geworden. »Er ist wahrscheinlich die
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