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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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ist auch so eine Sache«, beharrte Brill. »Jung trinkt doch sonst nie Alkohol.«
    »Das war Bleulers Einfluss. Davon habe ich ihn kuriert. Haben Sie was dagegen, wenn Jung trinkt, Abraham?«
    »Natürlich nicht. Alles ist besser als Jung in nüchternem Zustand. Sorgen wir dafür, dass er immer angesäuselt bleibt. Aber er strahlt etwas Beunruhigendes aus. Vom ersten Moment an, als er reinkam. Haben Sie gehört, wie er gefragt hat, warum der Boden bei mir so weich ist – der Holzboden?«
    »Das sind doch alles nur Hirngespinste«, meinte Freud. »Und hinter solchen Vorstellungen steht immer ein Wunsch. Jung ist einfach keinen Alkohol gewohnt. Sorgen Sie bitte dafür, dass er sicher zurück ins Hotel kommt.«
    »Na schön.« Brill wünschte uns viel Glück. Als wir losfuhren, rief er uns nach: »Aber es kann auch den Wunsch geben, sich etwas nicht vorzustellen.«

     
    In dem offenen Wagen, der über den Broadway ratterte, fragte mich Ferenczi, ob es in Amerika normal war, eine Mischung aus Äpfeln, Nüssen, Sellerie und Mayonnaise zu essen. Offenbar hatte Rose Brill ihren Gästen einen Waldorfsalat serviert.
    Freud saß schweigend in sich versunken. Er wirkte mürrisch. Vielleicht hatten ihn Brills Äußerungen doch beunruhigt. Auch ich glaubte inzwischen, dass mit Jung etwas nicht in Ordnung war. Außerdem fragte ich mich, was Freud mit der Bemerkung gemeint hatte, dass Jung wichtiger war als wir alle zusammen.
    Unvermittelt wandte sich Ferenczi an Freud. »Brill ist paranoid. Ist alles bloß Einbildung.«
    »Ein Paranoiker hat nie völlig unrecht«, antwortete Freud. »Ist Ihnen Jungs Versprecher aufgefallen?«
    »Was für ein Versprecher?«
    »Seine Fehlleistung. Er hat gesagt: ›Amerika wird euch verbieten‹ – nicht uns , sondern euch .«
    Daraufhin verstummte Freud wieder. Wir fuhren den Broadway hinunter bis zum Union Square, dann die Fourth Avenue entlang durch die Lower East Side bis zur Bowery Road. Als wir an den geschlossenen Ständen des Marktes an der Hester Street vorbeikamen, mussten wir das Tempo drosseln. Obwohl es schon fast elf war, drängten sich auf der Straße Juden mit ihren langen Bärten und ihrer merkwürdigen, von Kopf bis Fuß schwarzen Kleidung. Vielleicht war es zu heiß, um in den stickigen, hoffnungslos überbelegten Mietshäusern zu schlafen, in denen so viele Einwanderer der Stadt lebten. Die Juden gingen Arm in Arm spazieren oder blieben wild gestikulierend und laut debattierend in kleinen Grüppchen stehen. Überall war der Klang des verballhornten Deutsch zu hören, das die Hebräer als Jiddisch bezeichnen.
    »Das ist also die Neue Welt«, bemerkte Freud in abfälligem Ton vom Beifahrersitz aus. »Warum um Himmels willen kommen sie von so weit her, nur um dann das Zurückgelassene wiederzuerschaffen?«
    Ich wagte eine Frage: »Sind Sie nicht religiös, Dr. Freud?«
    Leider hatte ich damit in ein Wespennest gestochen. Zuerst dachte ich, er hatte mich nicht gehört. Ferenczi antwortete an seiner Stelle: »Das hängt ab, was Sie meinen mit religiös . Wenn zum Beispiel religiös bedeutet, Glaube an Gott ist gigantische Illusion, verursacht von kollektive Ödipuskomplex, dann Freud ist sehr religiös.«
    Zum ersten Mal fixierte mich Freud jetzt mit diesem durchdringenden Blick, der mir schon am Pier aufgefallen war. »Ich sage Ihnen jetzt, was für ein Gedankengang Sie zu Ihrer Frage bewogen hat. Ich hatte mich darüber gewundert, dass die Juden hierherkommen und genauso weitermachen wie vorher. Sie wollten schon antworten: Damit sie in Freiheit ihre Religion ausüben können, aber Sie haben es sich anders überlegt, weil Ihnen das zu platt vorkam. Dann haben Sie gedacht, wenn ich als Jude nicht erkenne, dass sie wegen der Religionsfreiheit gekommen sind, dann kann das nur daran liegen, dass mir Religion nicht viel bedeutet – so wenig im Grunde, dass ich nicht einmal ihre Wichtigkeit für diese Menschen erkenne. Daher Ihre Frage. Habe ich das richtig rekonstruiert?«
    »Vollkommen.«
    »Keine Sorge«, warf Ferenczi ein, »so geht allen mit ihm.«
    »Also«, fuhr Freud fort. »Stellen Sie mir bitte offene Fragen, dann gebe ich auch eine offene Antwort. Ich bin durch und durch ungläubig. Jede Neurose ist eine individuelle Religiosität, und die Religion ist eine universelle Zwangsneurose der Menschheit. So viel steht zweifelsfrei fest: Die Eigenschaften, die wir Gott zuschreiben, sind ein Widerhall der Ängste und Wünsche, die wir als Säuglinge und danach als Kleinkinder

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