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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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ihre Schuld.
    »Bitte fangen Sie an, meine Herren«, forderte uns McClellan auf.
    Freud wollte zunächst jede physiologische Grundlage der Symptome ausschließen. »Miss Acton, ich möchte sichergehen, dass Sie keine Kopfverletzung erlitten haben. Gestatten Sie?« Das Mädchen nickte. Nach einer gründlichen Untersuchung stellte Freud fest: »Der Schädel ist völlig unversehrt.«
    »Aphonie kann auch durch eine Verletzung des Kehlkopfs verursacht werden«, bemerkte ich.
    Freud nickte und gab mir mit einer Geste zu verstehen, das Mädchen selbst zu untersuchen.
    Als ich mich Miss Acton näherte, fühlte ich mich unerklärlich nervös. Ich konnte den Ursprung dieser Aufregung nicht erkennen. Anscheinend hatte ich Angst, mich vor Freud zu blamieren. Dabei hatte ich schon unendlich kompliziertere Untersuchungen vorgenommen – noch dazu vor meinen Professoren in Harvard -, ohne jemals unruhig zu sein. Ich erklärte Miss Acton, dass es wichtig war, herauszufinden, ob vielleicht eine körperliche Verletzung die Ursache dafür war, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Ich bat sie, meine Hand zu nehmen und sie so auf ihren Hals zu legen, dass es ihr nicht unangenehm war. Ich hielt ihr die Hand hin, zwei Finger ausgestreckt. Zögernd führte sie sie an ihre Kehle. Meine Finger landeten dabei aber auf ihrem Schlüsselbein. Ich bat sie, den Kopf zu heben. Sie folgte, und als meine Finger hinauf zu ihrem Kehlkopf glitten, fielen mir trotz ihrer Abschürfungen die weichen, vollkommenen Linien von Hals und Kinn auf, die auch von einem Bernini in Stein gemeißelt hätten sein können. Als ich an verschiedenen Stellen leichten Druck ausübte, kniff sie die Augen zusammen, wich aber nicht zurück. »Keine Spuren eines Kehlkopftraumas.«
    Miss Acton wirkte jetzt noch misstrauischer als bei unserem Eintreten. Das konnte ich ihr nachfühlen. Wenn kein körperlicher Schaden diagnostiziert wird, ist das für einen Patienten unter Umständen noch beunruhigender als eine eindeutig erkennbare Verletzung. Außerdem waren ihre Eltern nicht da, und sie war umringt von fremden Männern. Sie schien uns nacheinander zu taxieren.
    Freud wandte sich wieder an sie. »Meine Liebe, Sie sind beunruhigt, weil Sie Ihr Gedächtnis und Ihre Stimme verloren haben. Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Nach einem Vorfall dieser Art ist Amnesie nichts Ungewöhnliches. Wenn keine dauerhafte körperliche Verletzung vorliegt – und bei Ihnen liegt keine vor -, kann ich beide Störungen beheben, zumindest ist mir das bisher immer gelungen. Also, ich werde Ihnen jetzt einige Fragen stellen, die sich aber nicht auf die Ereignisse von heute beziehen. Ich will nur, dass Sie mir sagen, wie es Ihnen gerade geht. Möchten Sie vielleicht etwas zu trinken?«
    Sie nickte dankbar. McClellan schickte einen Beamten los, der kurz darauf mit einer Tasse Tee zurückkam.
    So entspann sich eine Unterhaltung zwischen Freud und dem Mädchen – er sprach, sie schrieb -, bei der es allerdings nur um allgemeine Dinge ging, zum Beispiel darum, dass sie im kommenden Monat ihr Studium am Barnard College aufnehmen wollte. Zuletzt notierte sie, dass es ihr leidtat, die Fragen der Polizei nicht beantworten zu können, und dass sie nach Hause wollte.
    Freud gab uns zu verstehen, dass er außerhalb der Hörweite von Miss Acton mit uns reden musste. Das führte dazu, dass sich in der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Ecke des geräumigen Büros eine Gruppe von ernst dreinblickenden Männern versammelte – Freud, Bürgermeister McClellan, Ferenczi, Dr. Higginson und ich. Mit äußerst leiser Stimme fragte Freud: »Wurde sie vergewaltigt?«
    »Nein, zum Glück nicht«, wisperte McClellan.
    »Aber ihre Verletzungen konzentrieren sich auffällig um die Genitalien.« Higginson räusperte sich. »Abgesehen vom Rücken, wurde sie anscheinend wiederholt auf Gesäß und … äh … Beckengegend geschlagen. Außerdem hat sie auf beiden Schenkeln jeweils eine Schnittwunde von einem scharfen Messer oder einem Rasiermesser.«
    »Was für ein Ungeheuer tut so was?« McClellan schüttelte den Kopf.
    »Die Frage muss im Gegenteil heißen, warum es nicht öfter passiert«, erwiderte Freud still. »Die Befriedigung einer ungebändigten Triebregung ist ungleich intensiver als die eines gezähmten Triebs. Auf jeden Fall sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen und heute Abend noch abwarten. Für mich steht noch nicht fest, dass ihre Amnesie hysterisch ist. Schwere Erstickungserscheinungen können

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