Morddeutung: Roman (German Edition)
empfinden. Wer das nicht einsieht, hat noch nicht einmal die Anfänge der menschlichen Psychologie begriffen. Wenn Sie nach Religion suchen, dürfen Sie mir nicht folgen.«
»Jetzt Sie sind unfair, Freud«, sprang mir Ferenczi bei. »Younger hat nicht gesagt, dass er sucht nach Religion.«
»Der Junge nimmt Anteil an meinen Ideen, da sollte er auch ihre Konsequenzen kennen.« Freud musterte mich. Plötzlich verschwand die Strenge aus seinem Gesicht, und er bedachte mich mit einem beinahe väterlichen Blick. »Und da ich vielleicht Anteil an seinen Ideen nehmen werde, möchte ich die Frage zurückgeben: Sind Sie ein religiöser Mensch, Younger?«
Zu meiner großen Verlegenheit wusste ich nicht, was ich antworten sollte. »Mein Vater war religiös.«
»Das ist nicht Antwort auf Frage, die gestellt wurde«, mahnte Ferenczi.
»Aber ich verstehe ihn«, sagte Freud. »Er meint, weil sein Vater gläubig war, tendiert er zur Skepsis.«
»Das stimmt«, bestätigte ich.
»Aber er fragt sich auch«, fügte Freud hinzu, »ob eine auf diese Weise begründete Skepsis eine gute Skepsis ist. Und das lässt ihn wiederum zum Glauben tendieren.«
Ich konnte ihn nur noch anstarren. Ferenczi nahm mir die Frage aus dem Mund: »Wie können Sie nur wissen?«
»Das folgt alles aus dem, was Younger uns gestern Abend erzählt hat. Dass das Medizinstudium nicht sein Wunsch war, sondern der seines Vaters. Außerdem …«, Freud zog befriedigt an seiner Zigarre, »… ist es mir genauso gegangen, als ich jung war.«
Mit seiner prächtigen Marmorfassade, den griechischen Giebeln und der fantastischen Kuppel im weichen Licht der Straßenlaternen hatte das neue olizeihauptquartier an der 240 Centre Street mehr Ähnlichkeit mit einem Palast als mit einem Verwaltungsgebäude. Nachdem wir zwei wuchtige Eichentüren durchschritten hatten, stießen wir hinter einem halbkreisförmigen, uns bis zur Brust reichenden Tisch auf einen Uniformierten. Elektrisches Licht umgab ihn mit einem gelben Schein. Er kurbelte an einem Fernsprecher, und bald darauf wurden wir von Bürgermeister McClellan begrüßt. Er befand sich in Begleitung eines korpulenten älteren Herrn, der sehr besorgt aussah. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Higginson, den Hausarzt der Familie Acton.
Während er uns reihum die Hand schüttelte, entschuldigte sich McClellan wortreich bei Freud, dass er ihn so spät noch behelligte. »Younger hat mir erzählt, dass Sie auch Experte für das antike Rom sind. Ich habe ein Buch über Venedig geschrieben, das ich Ihnen schenken möchte. Aber jetzt muss ich Sie gleich nach oben bringen. Miss Acton ist in einem fürchterlichen Zustand.«
Der Bürgermeister führte uns die Marmortreppe hinauf. Dr. Higginson redete viel über die Maßnahmen, die er ergriffen hatte – nichts davon klang schädlich, was immerhin schon ein Glücksfall war. Wir betraten ein großes, in klassischem Stil eingerichtetes Büro mit Ledersesseln, reichlich Messing und einem imposanten Schreibtisch. Hinter diesem Schreibtisch saß ein Mädchen, das im Vergleich dazu viel zu zart wirkte und in eine leichte Decke gehüllt war. Links und rechts von ihr hatte sich je ein Polizist postiert.
McClellan hatte recht: Sie war in einer elenden Verfassung. Sie hatte viel geweint, ihr Gesicht war schrecklich rot und verschwollen. Das lange blonde Haar war zerzaust und verklebt. Mit den größten Augen, die ich je gesehen hatte, blickte sie zu uns auf – ängstlich und misstrauisch.
»Wir haben schon alles Mögliche ausprobiert«, erklärte McClellan. »Schriftlich kann sie uns alles berichten, was davor und danach passiert ist. Aber was den … äh … Vorfall selbst angeht, erinnert sie sich an nichts.« Vor dem Mädchen lagen mehrere Zettel und ein Stift.
Der Bürgermeister stellte uns vor. Das Mädchen hieß Nora. Er erklärte ihr, dass wir Fachärzte waren, die ihr hoffentlich dabei helfen konnten, ihre Stimme und ihr Gedächtnis wiederzuerlangen. Er sprach zu ihr wie zu einer Siebenjährigen, vielleicht weil er ihre Sprechstörung mit einer Beeinträchtigung der Auffassungsgabe verwechselte. Dabei war ihren Augen sofort anzumerken, dass sie in dieser Hinsicht keineswegs beeinträchtigt war. Wie kaum anders zu erwarten, war das Mädchen durch das Erscheinen von drei weiteren fremden Männern völlig überfordert. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie hielt sie standhaft zurück. Sie formulierte sogar eine Entschuldigung, als wäre der Gedächtnisverlust
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