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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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euch das an.«
    Unter seinem Stuhl zog Brill einen dicken Packen Papiere heraus, der mit Gummibändern zusammengehalten wurde, insgesamt vielleicht dreihundert Seiten. Auf der ersten Seite stand: Ausgewählte Schriften über Hysterie und andere Psychoneurosen, von Sigmund Freud, Übersetzung und Vorwort von A. A. Brill. »Ihr erstes Buch auf Englisch«, bemerkte Brill und reichte Freud das Manuskript mit einem glühenden Stolz, wie ich ihn noch nie an ihm bemerkt hatte. »Das wird eine Sensation, Sie werden sehen.«
    »Das macht mich überglücklich.« Freud gab ihm den Packen zurück. »Wirklich, Abraham. Aber Sie wollten uns etwas über Jung erzählen.«
    Brills Miene wurde düster. Er stand auf, hob das Kinn und erklärte voller Hochmut: »So behandeln Sie also die Arbeit meiner letzten zwölf Monate. Manche Träume erfordern keine Deutung, sondern entschlossenes Handeln. Auf Wiedersehen.«
    Dann setzte er sich wieder. »Tut mir leid, ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich muss mich wohl einen Augenblick lang für Jung gehalten haben.« Ferenczi hielt sich nach Brills erstaunlicher Darbietung die Seiten, doch Freud blieb völlig unbewegt. Nachdem er sich geräuspert hatte, lenkte Brill unsere Aufmerksamkeit auf den Namen seines Verlegers Smith Ely Jelliffe, der auf der Titelseite des Manuskripts vermerkt war. »Jelliffe ist Herausgeber des Journal of Nervous Disease . Er ist Arzt, reich wie ein Krösus, hat beste Verbindungen und ist dank meiner Wenigkeit ein frischgebackener Anhänger unserer Sache. Bei Gott, ich werde noch ein Eden der Psychoanalyse aus diesem Gomorrha machen, ihr werdet es erleben. Auf jeden Fall hatte unser Freund Jung am Sonntagabend ein heimliches Rendezvous mit Jelliffe.«
    Brill erzählte, dass er am Morgen das Manuskript beim Verlag abgeholt hatte. Dabei ließ Jelliffe fallen, dass Jung am Sonntagabend bei ihm zum Dinner gewesen war. Uns gegenüber hatte Jung dieses Treffen mit keinem Wort erwähnt. »Anscheinend hat sich ihr Gespräch vor allem darum gedreht, wo in Manhattan die besten Bordelle zu finden sind. Aber es ging auch noch um was anderes.« Brill legte eine Kunstpause ein. »Jelliffe hat Jung gebeten, nächste Woche an der Fordham University – einer Jesuitenschule – eine Vorlesungsreihe über Psychoanalyse zu halten.«
    »Aber das ist doch eine wunderbare Neuigkeit!«, rief Freud.
    »Tatsächlich? Warum Jung, und nicht Sie?«
    »Abraham, ab Dienstag nächster Woche werde ich jeden Tag eine Vorlesung in Massachusetts halten. Da kann ich doch nicht gleichzeitig in New York als Gastredner auftreten.«
    »Aber was soll diese Geheimniskrämerei? Warum hat er von dem Treffen mit Jelliffe nichts verlauten lassen?«
    Auf diese Frage wusste keiner von uns eine Antwort. Freud gab sich jedoch völlig unbesorgt und meinte nur, dass es sicherlich einen guten Grund für Jungs Verschwiegenheit gab.
    Die ganze Zeit hatte ich Brills dickes Manuskript in der Hand gehalten. Nachdem ich die ersten zwei Seiten gelesen hatte, blätterte ich zur nächsten und war verblüfft, als ich auf ein fast leeres Blatt stieß. Es wies nur fünf Schriftzeilen auf: alles zentriert, kursiv und in Großbuchstaben. Anscheinend handelte es sich um einen Bibelvers oder etwas Ähnliches.
    »Was ist das?« Ich hielt die Seite hoch.
    Ferenczi nahm mir das Blatt aus der Hand und begann vorzulesen:
    TUT WEG DIE VORHAUT EURES HERZENS,
IHR MÄNNER ZU JERUSALEM,
AUF DASS NICHT MEIN GRIMM AUSFAHRE WIE FEUER
UND BRENNE, DASS NIEMAND LÖSCHEN KÖNNE,
UM EURER BOSHEIT WILLEN.
    »Jeremia, nein?« Ferenczis Frage verriet eine Bibelkenntnis, die der meinen deutlich überlegen war. »Was hat Jeremia zu suchen in Ihrem Hysteriebuch?«
    Merkwürdiger war noch, dass sich am unteren Rand des Blattes – das Ferenczi jetzt auf die Mitte unseres Tisches legte – ein mit Stempeldruck aufgebrachtes Gesicht befand. Es war eine Art runzeliger orientalischer Weiser mit einem Turban auf dem Kopf, einer langen Nase, einem noch längeren Bart und weit aufgerissenen, hypnotischen Augen.
    »Ein Hindu?«, fragte Ferenczi.
    »Oder ein Araber?«, rätselte ich.
    Am merkwürdigsten war jedoch, dass die nächste Seite des Manuskripts genauso aussah: leer bis auf das Bibelzitat in der Mitte, allerdings ohne Turbanhaupt mit beschwörend starrendem Blick. Flüchtig blätterte ich die restlichen Seiten durch. Überall das Gleiche.
    »Soll das ein Witz sein, Brill?« Freud sah seinen Übersetzer an.
    Nach Brills Gesichtsausdruck zu

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