Morddeutung: Roman (German Edition)

aufsteigen.
    »Niemand außer mir hätte diesen Hinweis bemerkt. Niemand.« Der Coroner schritt tiefer in den Raum hinein, wo auf dem hintersten Regal eine Leiche lag. Sie war mit einem weißen Laken bedeckt, auf dem stand: Riverford, E., 29. 8. 09. »Schauen Sie sich die Tote genau an, Detective, und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
    Mit großer Geste schlug der Coroner das Laken zurück. Littlemore machte große Augen. Auch Hugel wandte sich jetzt dem Leichnam zu. Die Bestürzung des Detectives hatte einen guten Grund: Unter dem Laken kam nicht Elizabeth Riverfords Körper zum Vorschein, sondern der eines alten Mannes mit schwarzen Zähnen und schlaffer Haut.

     
    Ich nahm den Aufzug zu Miss Actons Etage – doch dann fiel mir ein, dass ich zuerst noch Papier und Stifte aus meinem Zimmer holen musste. Die befremdliche Bibelstelle in seinem Manuskript hatte Brill tief getroffen. Er wirkte fast verängstigt und kündigte seine Absicht an, sofort zurück zu seinem Verleger Jelliffe zu fahren und eine Erklärung von ihm zu verlangen. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er uns etwas verheimlichte.
    Eigentlich hatte ich erwartet, dass Freud bei meinen ersten Sitzungen mit Miss Acton zugegen sein würde. Aber er wies mich lediglich an, ihm anschließend alles zu berichten. Er fürchtete, durch seine Gegenwart die Übertragung zu behindern.
    Die Übertragung ist ein psychoanalytisches Phänomen, auf das Freud eher zufällig gestoßen war. Diese Entdeckung war eine große Überraschung für ihn. Ein Patient nach dem anderen wurde durch die Analyse dazu bewegt, ihn zu verehren oder gelegentlich auch zu hassen. Zunächst versuchte er, diese Gefühle zu ignorieren, weil er sie als unliebsame und schwer lenkbare Störungen der therapeutischen Beziehung betrachtete. Mit der Zeit jedoch erkannte er, wie wesentlich sie sowohl für die Krankheit als auch für die Heilung des jeweiligen Patienten waren. In der Praxis des Analytikers durchlebt der Patient noch einmal genau jene unbewussten Konflikte, die die Symptome verursacht haben, und überträgt dabei die unterdrückten Wünsche, die der Krankheit zugrunde liegen, auf den Arzt. Das kommt nicht von ungefähr. Die gesamte Krankheit der Hysterie, so hatte Freud festgestellt, bestand darin, dass der Betroffene tief vergrabene, in der Kindheit entstandene, aber nie ausgelebte Wünsche und Emotionen auf andere Menschen und manchmal sogar Gegenstände übertrug. Indem sie dieses Phänomen gemeinsam mit dem Patienten erforscht – indem sie die Übertragung ans Licht bringt und sie durcharbeitet -, macht die Analyse Unbewusstes bewusst und beseitigt die Ursache der Krankheit.
    Damit erwies sich die Übertragung als eine der bedeutendsten Entdeckungen Freuds. Würde auch ich eines Tages auf eine Idee von vergleichbarer Wichtigkeit stoßen? Vor zehn Jahren hatte ich geglaubt, etwas Bahnbrechendes herausgefunden zu haben. Am 31. Dezember 1899 stürmte ich ganz aufgeregt in das Studierzimmer meines Vaters, nur wenige Stunden vor der Ankunft der Gäste zu dem Silvesterdinner, das meine Mutter jedes Jahr gab. Er war ziemlich überrascht und wohl auch verärgert darüber, dass ich ihn bei seiner Arbeit unterbrach, wenngleich er das natürlich nicht direkt äußerte. Ich teilte ihm mit, dass ich eine Erkenntnis von möglicherweise großer Tragweite gewonnen hatte, und bat ihn um die Erlaubnis, ihm davon zu berichten. Er schob den Kopf vor. »Sprich.«
    Seit den Anfängen der Neuzeit, legte ich dar, wiesen alle revolutionären Geistesleistungen der Menschheit eine Gemeinsamkeit auf, sei es in der Kunst oder in der Wissenschaft. Jede einzelne von ihnen hatte sich um einen Jahrhundertwechsel herum und – genauer noch – in der ersten Dekade eines neuen Jahrhunderts abgespielt.
    In der Malerei, Lyrik, Bildhauerei, Naturwissenschaft, Roman- und Theaterliteratur, Musik, Physik – in jedem dieser Felder: Welcher Mann und welches Werk kann mit der größten Berechtigung eine Genialität für sich in Anspruch nehmen, die den Lauf der Geschichte verändert hat? In der Malerei deuten die Experten übereinstimmend auf die Scrovegni-Kapelle, wo Giotto die dreidimensionale Darstellung ins neue Zeitalter einführte. Diese Fresken malte er zwischen 1303 und 1305. In der Versdichtung gebührt die Krone sicherlich Dantes Inferno , der ersten großen in Volkssprache verfassten Dichtung, die der Autor kurz nach seiner Verbannung aus Florenz im Jahr 1302 begonnen hatte. In der Bildhauerei kommt nur ein Werk