Morddeutung: Roman (German Edition)
ihn noch nie vorher gesehen.«
»Mit einem Koffer«, fragte Hugel. »In welcher Hand hat er ihn getragen?«
»Das wusste Clifford nicht.«
»Sie haben ihn danach gefragt?«
»Klar«, meinte Littlemore. »Ich musste doch die Dexterität von dem Kerl überprüfen.«
Hugel knurrte abfällig. »Kann sowieso nicht der Täter sein.«
»Wieso nicht?«
»Weil unser Mann angegrautes Haar hat und dort im Haus wohnt, Littlemore.« Der Coroner wurde jetzt lebhafter. »Wir wissen, dass Miss Riverford keine regelmäßigen Besucher hatte. Und wir wissen, dass sie am Sonntagabend keinen Besuch von außerhalb des Hauses bekam. Wie ist der Mörder dann in ihre Wohnung gekommen? Die Tür war nicht aufgebrochen. Es gibt nur eine Möglichkeit. Er hat geklopft, und sie ist hingegangen. Aber würde eine junge Frau, die allein wohnt, jedem x-Beliebigen die Tür öffnen? Einem Wildfremden, mitten in der Nacht? Das bezweifle ich doch sehr. Aber einem Nachbarn würde sie sehr wohl aufmachen, jemandem aus dem Haus – jemandem, den sie vielleicht sogar erwartet hat, dem sie schon früher die Tür geöffnet hat.«
»Einem Kerl aus der Wäscherei!«, rief Littlemore.
Der Coroner starrte den Detective an.
»Das ist das andere, was ich noch sagen wollte, Mr. Hugel. Hören Sie zu. Ich bin unten im Keller des Balmoral, da seh ich plötzlich diesen Chinesen, der diese Lehmspuren hinter sich herzieht – Spuren von rotem Lehm. Ich hab eine Probe genommen; es ist der gleiche Lehm wie oben in Miss Riverfords Zimmer. Vielleicht ist das der Mörder.«
»Ein Chinese.«
»Ich wollte ihn aufhalten, aber er ist mir entwischt. Ein Wäschereiarbeiter. Vielleicht hat er Miss Riverford am Sonntagabend die Wäsche gebracht. Sie macht ihm die Tür auf, und er murkst sie ab. Dann marschiert er wieder runter in die Wäscherei, und niemand hat was mitgekriegt.«
»Littlemore.« Der Coroner holte tief Luft. »Der Mörder ist kein chinesischer Wäschereiarbeiter, sondern ein wohlhabender Mann. Das wissen wir.«
»Nein, Mr. Hugel, wir sind nur deshalb draufgekommen, dass er wohlhabend sein muss, weil er sie mit einer teuren Seidenkrawatte erwürgt hat. Aber wenn man in einer Wäscherei arbeitet, dann hat man ständig mit Seidenkrawatten zu tun. Vielleicht hat der Chinese so eine Krawatte geklaut und Miss Riverford damit umgebracht.«
»Mit welchem Motiv?«
»Keine Ahnung. Vielleicht bringt er gern junge Frauen um, wie dieser Typ in Chicago. Da fällt mir ein, Miss Riverford ist doch aus Chicago. Meinen Sie, da könnte es einen …?«
»Nein, Detective, das meine ich nicht. Und ich glaube auch nicht, dass Ihr Chinese was mit dem Mord an Miss Riverford zu tun hat.«
»Und der Lehm …«
»Vergessen Sie den Lehm.«
»Aber der Chinese ist doch vor mir davon…«
»Kein Chinese, haben Sie verstanden, Littlemore? Kein Chinese hat in irgendeiner Weise mit diesem Mord zu tun. Der Täter ist mindestens eins dreiundachtzig. Er ist weiß, das beweisen die Haare, die an der Toten gefunden wurden. Das Dienstmädchen – sie ist der Schlüssel. Was hat sie Ihnen erzählt?«
Als ich zum Frühstück hinunterging, hatte ich noch ungefähr fünfzehn Minuten bis zu meinem ersten Besuch bei Miss Acton. Freud nahm gerade Platz; Brill und Ferenczi saßen bereits am Tisch. Brill hatte drei leere Teller vor sich und machte sich gerade über den vierten her. Ich hatte ihm gestern mitgeteilt, dass die Clark University die Kosten für sein Frühstück übernahm. Anscheinend hatte er größeren Nachholbedarf.
»Das ist Amerika, so wie ich es liebe«, sagte er zu Freud. »Man fängt mit gerösteten Haferflocken in Zucker und Sahne an, dann kommt eine Lammkeule mit Pommes frites, als Nächstes ein Korb Hefebrötchen mit frischer Butter und am Schluss Buchweizenkekse mit Ahornsirup aus Vermont. Ich bin im siebten Himmel.«
»Ich nicht«, erwiderte Freud. Offenkundig hatte er ernstliche Verdauungsstörungen. Unser Essen war ihm zu schwer, bekannte er.
»Mir auch zu schwer«, klagte Ferenczi, der nur eine Tasse Tee vor sich stehen hatte. »Ich glaube, es war Mayonnaisesalat.«
»Wo ist Jung?«, erkundigte sich Freud.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Brill. »Aber dafür weiß ich, wo er am Sonntagabend war.«
»Am Sonntagabend? Am Sonntagabend hat er sich früh schlafen gelegt.«
»Von wegen.« Offenbar bereitete es Brill großes Vergnügen, uns auf die Folter zu spannen. »Und ich weiß sogar, mit wem er zusammen war. Hier, ich zeig es euch. Schaut
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