Morddeutung: Roman (German Edition)
für immer zum Schweigen zu bringen. Eine Rückkehr zum Gramercy Park kam daher auf keinen Fall infrage, zumindest so lange nicht, bis ihr Vater wieder in der Stadt war und für ihre Sicherheit sorgen konnte. Bei diesen Worten veränderte sich Miss Actons Gesichtsausdruck, und sie machte eine Geste mit den Händen, die ich nicht deuten konnte.
»Ich hab’s«, verkündete McClellan. Wir sollten Miss Acton ins Hotel Manhattan mitnehmen. Der Bürgermeister selbst würde für die Kosten ihres Zimmers aufkommen. Die alte Haushälterin Mrs. Biggs konnte ebenfalls dort untergebracht werden und dafür Sorge tragen, dass geeignete Kleidung und andere nötige Dinge ins Hotel geschickt wurden. Miss Acton sollte bis zur Rückkehr ihrer Eltern vom Land im Hotel bleiben. Auf diese Weise war nicht nur die Sicherheit von Miss Acton gewährleistet, sondern auch ein problemloser Beginn ihrer Behandlung.
»Es gibt noch eine andere Schwierigkeit«, gab Freud zu bedenken. »Eine Psychoanalyse erfordert einen hohen zeitlichen Aufwand vom Arzt. Mir persönlich ist dieser Aufwand nicht möglich. Gleiches gilt für meinen Kollegen Dr. Ferenczi. Wie steht es mit Ihnen, Younger? Wollen Sie es mit ihr versuchen?«
An meinem Zögern erkannte Freud, dass ich unter vier Augen mit ihm reden wollte. Er zog mich beiseite.
»Brill soll es machen«, sagte ich, »nicht ich.«
Wieder fixierte mich Freud mit diesem Blick, der sich in Felsen bohren konnte. Seine Antwort kam ganz leise. »Ich habe keinen Zweifel an Ihren Fähigkeiten, mein Junge. Mit Ihrer Fallgeschichte haben Sie gezeigt, was Sie können. Ich möchte, dass Sie die Behandlung übernehmen.«
Es war zugleich ein Befehl, dem ich mich nicht widersetzen konnte, und ein Vertrauensbeweis, der mich unbeschreiblich glücklich machte. Ich willigte ein.
»Gut«, sagte er mit erhobener Stimme. »Das wäre also geklärt. Solange ich in Amerika bin, kann ich die Behandlung überwachen, aber Dr. Younger wird die Analyse durchführen. Vorausgesetzt natürlich …« Er wandte sich an Miss Acton. »… dass unsere Patientin damit einverstanden ist.«
TEIL 2
KAPITEL SECHS
Am Dienstagmorgen fiel Detective Littlemore auf, dass Coroner Hugels eingefallene Wangen noch hohler wirkten als sonst. Unter seinen Tränensäcken hatten sich weitere kleine Säcke gebildet, und auch die dunklen Augenringe wurden von zusätzlichen Ringen untermalt. Littlemore war sich sicher, den Coroner mit seinen neuesten Entdeckungen aufmuntern zu können.
»Also schön, Mr. Hugel«, begann der Detective, »ich war noch mal im Balmoral. Und jetzt passen Sie gut auf.«
»Haben Sie mit dem Dienstmädchen gesprochen?«, unterbrach ihn Hugel sofort.
»Die arbeitet nicht mehr dort«, antwortete Littlemore. »Ist rausgeflogen.«
»Das hab ich mir gedacht!«, rief der Coroner. »Haben Sie sich ihre Adresse besorgt?«
»Ja klar, ich hab sie gefunden. Aber immer der Reihe nach. Ich bin noch mal rauf in Miss Riverfords Schlafzimmer, um mir diese Lampe an der Decke von Nahem anzusehen – Sie wissen schon, dieses Bowlingkugeldings, an das sie gefesselt war. Sie hatten recht. Da hatten sich tatsächlich Fasern von einer Schnur dran verfangen.«
»Gut. Die haben Sie natürlich sichergestellt, nehme ich an?«
»Hab ich. Und die Kugel gleich mit.« Littlemores Äußerung veranlasste Hugel zu einer Miene dumpfer Vorahnung. Unbeirrt fuhr der Detective fort: »Ich hab mir gedacht, die Decke sieht nicht besonders fest aus, also bin ich hoch aufs Bett, hab ein bisschen an der Konstruktion gezogen, und schon kam sie runter.«
»Sie haben sich gedacht, die Decke sieht nicht besonders fest aus, also haben Sie an der Lampe gezogen, und sie ist herausgebrochen. Ich muss schon sagen, Detective, ausgezeichnete Arbeit.«
»Danke, Mr. Hugel.«
»Vielleicht demolieren Sie nächstes Mal gleich das ganze Zimmer. Gibt es noch andere Spuren, die Sie vernichtet haben?«
»Nein«, antwortete Littlemore. »Ich versteh bloß nicht, wie das Ding so leicht herausbrechen konnte. Wie konnte es in diesem Zustand das Mädchen halten?«
»Nun, offensichtlich hat es sie gehalten.«
»Noch was, Mr. Hugel, was Wichtiges. Zwei Sachen sogar.« Littlemore beschrieb den Unbekannten, der das Balmoral gegen Mitternacht mit einem schwarzen Koffer verlassen hatte. »Wie finden Sie das, Mr. Hugel?«, fragte der Detective voller Stolz. »Das könnte doch unser Mann sein, oder?«
»Die Portiers sind sicher, dass er nicht im Haus wohnt?«
»Ganz sicher. Hatten
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