Morddeutung: Roman (German Edition)
infrage: Michelangelos David , den er 1501 aus einem einzigen Marmorblock formte. Das gleiche Jahr brachte eine grundlegende Umwälzung in der modernen Wissenschaft, denn damals reiste ein gewisser in Thorn gebürtiger Nikolaus nach Padua, angeblich um Medizin zu studieren, doch in Wirklichkeit, um seine astronomischen Beobachtungen fortzusetzen, aus denen er eine verbotene Wahrheit herausgelesen hatte; heute ist dieser Mann als Kopernikus bekannt. In der Romanliteratur muss die Wahl auf das Urbild aller Romane fallen: Don Quijote , der zum ersten Mal 1604 gegen Windmühlen kämpfte. In der Musik kann niemand Beethovens wegweisendem symfonischem Genie den Rang streitig machen: Die Erste komponierte er 1800, die unbeugsame Eroica 1803 und die Fünfte 1807.
Dies war die Argumentation, die mein Vater zu hören bekam. Sicherlich war sie kindisch, aber ich war damals siebzehn und empfand es als erhebendes Gefühl, am Beginn eines neuen Jahrhunderts zu stehen. In meinem Überschwang sagte ich für die nächsten Jahre eine Welle bahnbrechender Werke und Ideen voraus. Und was würde man nicht dafür geben, den Beginn des neuen Jahrtausends in hundert Jahren mitzuerleben!
»Du scheinst wirklich enthusiastisch«, lautete die phlegmatische Erwiderung meines Vaters. Und dabei blieb es. Ich hatte den Fehler gemacht, meine Begeisterung zu zeigen. Enthusiastisch war für meinen Vater ein Ausdruck äußerster Geringschätzung.
Doch so unberechtigt war meine Begeisterung nicht. Im Jahr 1905 verfasste ein unbekannter Schweizer Patentanwalt deutschjüdischer Abstammung eine Theorie über die sogenannte Relativität. Schon zwölf Monate später erklärten meine Professoren in Harvard, dass dieser Einstein unsere Vorstellungen von Raum und Zeit für immer verändert hatte. In der Kunst passierte zugegebenermaßen nichts. 1903 veranstalteten die Besucher des St. Botolph Club in Boston einen großen Wirbel um die Seerosen eines Franzosen, doch wie sich herausstellte, waren diese lediglich das Werk eines erblindenden Malers. Doch was das Wissen der Menschheit über sich selbst anging, wurden meine Prophezeiungen abermals erfüllt. Im Jahr 1900 veröffentlichte Sigmund Freud Die Traumdeutung . Mein Vater hätte für diese Einschätzung nur Spott übrig gehabt, doch ich bin überzeugt davon, dass auch Freud unser Denken für immer verändert hat. Nach Freuds Erkenntnissen können wir uns selbst und andere nie wieder so betrachten wie vorher.
Meine Mutter »beschützte« uns Kinder immer vor meinem Vater. Für mich war das eher irritierend, denn ich war nicht darauf angewiesen. Im Gegensatz zu meinem älteren Bruder. Und in seinem Fall blieb ihr Schutz völlig wirkungslos. Als zweiter Sohn hatte ich den großen Vorteil, alles beobachten zu können. Nicht dass ich vorgezogen wurde, keineswegs. Doch als mein Vater anfing, sich mit mir auseinanderzusetzen, hatte ich mich bereits mit einer undurchdringlichen Schale umgeben, und er konnte keinen ernsthaften Schaden mehr anrichten. Allerdings hatte ich eine Achillesferse, die er schließlich auch entdeckte: Shakespeare.
Mein Vater sprach nie offen aus, dass er meine Schwärmerei für Shakespeare übertrieben fand, aber er ließ keinen Zweifel an seiner Auffassung: Wenn ich mich mehr für Literatur und insbesondere für Hamlet interessierte als für die Realität, dann hatte das etwas Ungesundes und Überhebliches an sich. Nur ein einziges Mal verlieh er dieser Meinung Ausdruck. Mit dreizehn rezitierte ich einmal in der Annahme, allein zu Hause zu sein, Hamlets Monolog Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, dass er um sie soll weinen? Mag sein, dass ich bei Blut’ger, kupplerischer Buhle ein wenig zu heftig und bei Pfui drüber! fast ohrenbetäubend wurde. Ohne mein Wissen hatte mein Vater alles mitbekommen. Als ich fertig war, räusperte er sich hinter mir und fragte, was mir Hamlet war und ich ihm, dass ich um Hamlet sollte weinen.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich nicht in Tränen ausbrach. Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich nicht mehr geweint. Falls er mich nicht ohnehin bloß in Verlegenheit bringen wollte, zielte er mit seiner Bemerkung wohl darauf ab, dass meine Hingabe an Hamlet für das große Ganze nichts zu bedeuten hatte: nichts für meine Zukunft und auch nichts für die Welt. Das wollte er mir schon früh klarmachen. Es ist ihm auch gelungen, und ich wusste sogar, dass er völlig recht hatte.
Aber all dieses Wissen konnte mich nicht von meiner Neigung zu Shakespeare
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