Morddeutung: Roman (German Edition)
Miss Acton, ging ich hinunter zu einem späten Frühstück. Ich traf auf Jung, der gerade eine amerikanische Zeitung las, und setzte mich zu ihm. Die anderen waren zum Metropolitan Museum aufgebrochen. Jung war nicht mitgefahren, so erklärte er mir, weil er noch am Vormittag dem Neuropsychiater Dr. Onuf in Ellis Island einen Besuch abstatten wollte.
Zum ersten Mal war ich ganz allein mit Jung. Er schien in angeregter und mitteilsamer Stimmung zu sein. Er hatte gestern den ganzen Nachmittag geschlafen, wie er mir berichtete, und die lange Ruhepause hatte ihm wirklich gutgetan. Tatsächlich hatte sich die Blässe seines Gesichts, die mir gestern Sorge gemacht hatte, merklich gebessert. Auch seine Meinung über Amerika besserte sich immer mehr, wie er mir versicherte. »Den Amerikanern fehlt es nur an der Literatur, nicht an der ganzen Kultur.«
Diese Bemerkung war wahrscheinlich als Kompliment gemeint. Um ihm zu beweisen, dass nicht alle Amerikaner Analphabeten waren, erzählte ich ihm von den Shakespeare-Unruhen am Astor Place.
»Die Amerikaner wollten also einen muskulösen, amerikanischen Hamlet.« Sinnierend schüttelte Jung den Kopf. »Ihre Geschichte bestätigt meine Meinung. Ein maskuliner Hamlet ist ein Widerspruch in sich. Bereits mein Urgroßvater hat festgestellt, dass Hamlet die weibliche Seite des Mannes verkörpert: das Geistige, die innere Seele, die so empfindsam ist, dass sie die spirituelle Welt erkennt, aber nicht stark genug, um die damit verbundene Last zu tragen. Man muss beides können: den Stimmen aus der anderen Welt lauschen, aber gleichzeitig in dieser Welt leben und ein Mann der Tat sein.«
Die von Jung erwähnten »Stimmen« stellten mich vor ein Rätsel. Meinte er das Unbewusste? Jedenfalls freute es mich, zu hören, dass er eine Meinung zu Hamlet hatte. »Sie beschreiben Hamlet fast genauso wie Goethe. So hat er Hamlets Unfähigkeit zum Handeln erklärt.«
»Ich habe doch gerade erwähnt, dass das die Auffassung meines Urgroßvaters war.« Jung nahm einen Schluck Kaffee.
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen. »Goethe war ihr Urgroßvater?«
»Für Freud ist Goethe der größte aller Dichter«, erwiderte Jung. »Jones dagegen bezeichnet ihn als Dithyrambiker. Ist das zu fassen? Auf so was kann nur ein Engländer verfallen. Ich verstehe nicht, was Freud in ihm sieht.« Der Mann, von dem Jung da sprach, war sicherlich Ernest Jones, Freuds britischer Anhänger, der inzwischen in Kanada wohnte und morgen zu unserer Gruppe stoßen sollte. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass Jung meiner Frage ausweichen wollte, doch dann fügte er hinzu: »Ja, ich bin Carl Gustav Jung der Dritte; der Erste, mein Großvater, war Goethes Sohn. Das ist allgemein bekannt. Die Mordanschuldigungen waren natürlich völlig aus der Luft gegriffen.«
»Ich wusste gar nicht, dass man Goethe einen Mord vorgeworfen hat.«
»Aber doch nicht Goethe.« Jung klang entrüstet. »Meinem Großvater. Anscheinend bin ich ihm in jeder Hinsicht sehr ähnlich. Er wurde wegen Mordes verhaftet, aber das war nur ein Vorwand. Allerdings hat er einen Roman geschrieben – Die Verdächtigen , ziemlich gut sogar – über einen Mann, der des Mordes bezichtigt wird, aber unschuldig ist oder es zumindest scheint. Das war, bevor ihn Humboldt unter seine Fittiche genommen hat. Wissen Sie, Younger, fast wäre es mir lieber, wenn Ihre Universität Freud und mir nicht die gleiche Ehre zuteilwerden ließe. Er ist in solchen Dingen nämlich sehr empfindlich.«
Mir fiel keine passende Erwiderung auf diese abrupte Wendung des Gesprächs ein. Es war schließlich keineswegs so, dass Freud und Jung die gleiche Ehre zuteilwurde. Bekanntlich war Freud das Herzstück der Feierlichkeiten an der Clark University, der Hauptredner mit fünf langen Vorlesungen. Jung dagegen war erst in letzter Minute als Ersatz für einen Referenten eingeladen worden, der seine Teilnahme abgesagt hatte.
Aber Jung erwartete ohnehin keine Antwort. »Ich verstehe, warum Sie Freud gestern gefragt haben, ob er gläubig ist. Eine scharfsinnige Frage, Younger.« Auch das war Neuland für mich. Bisher hatte Jung noch zu keiner meiner Bemerkungen eine positive Reaktion gezeigt. »Bestimmt hat er Ihnen erklärt, dass er nicht gläubig ist. Er ist ein Genie, aber seine Erkenntnisse sind eine Bedrohung für ihn. Wer sein ganzes Leben damit verbringt, das Pathologische, Verkümmerte und Niedrige zu untersuchen, verliert unter Umständen den Blick für das Reine,
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