Morddeutung: Roman (German Edition)
mitgenommen. Da haben wir Sie gesehen. Waren Sie gestern Abend bei Mrs. Fishs Ball?«
Ich bejahte.
»Jetzt fragen Sie sich bestimmt, ob meine Familie eingeladen war«, sagte sie, »aber Sie wollen es nicht so direkt aussprechen, aus Angst, dass wir nicht eingeladen waren.«
»Nein, Miss Acton. Ich habe mich gefragt, woher Mrs. Banwell weiß, unter welchen Umständen mein Vater ums Leben gekommen ist.«
»Macht es Sie verlegen, wenn die Leute so was wissen?«
»Wollen Sie mich verlegen machen?«
»Clara meint, alle Mädchen finden es faszinierend – dass Sie einen Vater haben, der sich umgebracht hat. Sie finden, das verleiht Ihnen Seele. Die Antwort ist ja, wir waren eingeladen, aber ich würde in tausend Jahren nie zu so einem Ball gehen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Diese Bälle sind abscheulich.«
»Warum?«
»Weil sie so … so eintönig sind.«
»Sie sind also abscheulich eintönig?«
»Wissen Sie eigentlich, was eine Debütantin machen muss, Dr. Younger? Zuerst muss sie zusammen mit ihrer Mutter alle Bekannten ihrer Mutter besuchen – das können unter Umständen hundert Adressen sein. Sie können sich bestimmt nicht vorstellen, was das für eine Qual ist. In jedem Haus äußern sich die Frauen unweigerlich dazu, wie ›erwachsen‹ die Debütantin aussieht, womit Sie etwas ziemlich … Abstoßendes meinen. Wenn dann der große Tag kommt, wird sie vorgeführt wie ein sprechendes Tier, auf das die Konversationsjagd eröffnet worden ist. Dann muss sie einen Kotillon über sich ergehen lassen, bei dem sich jeder Mann berechtigt glaubt, ihr den Hof zu machen, gleichgültig, wer er ist, wie alt er ist und wie schlimm sein Mundgeruch ist. Dabei war ich noch nicht einmal in der Verlegenheit, mit diesen Männern tanzen zu müssen. Noch in diesem Monat werde ich aufs College gehen; ich werde nie debütieren.«
Ich zog es vor, nicht weiter auf diese kleine Abhandlung einzugehen, die mir alles in allem sogar recht einleuchtend erschien. Stattdessen unternahm ich noch einmal einen Vorstoß in eine andere Richtung. »Sagen Sie mir, was passiert, wenn Sie sich zu erinnern versuchen.«
»Was meinen Sie mit ›was passiert‹?«
»Sie sollen mir alle Gedanken, Bilder oder Gefühle schildern, die Ihnen bei dem Bemühen einfallen, sich an die gestrigen Ereignisse zu erinnern.«
Sie holte tief Luft. »Wo die Erinnerung sein sollte, da ist nur Dunkelheit. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.«
»Sind Sie selbst in dieser Dunkelheit?«
»Ob ich dort bin …« Ihre Stimme wurde leise. »Ich glaube schon.«
»Ist noch was anderes dort?«
»Eine Gegenwart.« Sie erschauerte. »Ein Mann.«
»An was denken Sie, wenn Sie die Gegenwart dieses Mannes spüren?«
»Ich weiß nicht. Mein Herz schlägt schneller.«
»Als ob Sie etwas zu fürchten hätten?«
Sie schluckte. »Zu fürchten? Lassen Sie mich nachdenken. Ich bin in meinem Haus überfallen worden. Der Mann, der mich angegriffen hat, ist noch nicht gefasst. Die Polizei weiß nicht mal, wer es ist. Sie nimmt an, dass er vielleicht sogar mein Haus beobachtet und auf meine Rückkehr lauert, um mich zu töten. Und Sie stellen mir hier die überaus scharfsinnige Frage, ob ich etwas zu fürchten habe?«
Ich hätte ihr vielleicht mehr Mitgefühl bezeigen sollen, doch ich beschloss, den letzten Pfeil abzuschießen, den ich noch im Köcher hatte. »Das war nicht das erste Mal, dass Sie Ihre Stimme verloren haben, Miss Acton.«
Sie zog die Stirn in Falten. Unwillkürlich nahm ich die graziösen, schrägen Linien ihres Kinns und Profils wahr. »Von wem haben Sie das erfahren?«
»Mrs. Biggs hat es gestern der Polizei mitgeteilt.«
»Das ist doch schon drei Jahre her.« Ihr Gesicht lief zartrosa an. »Da gibt es überhaupt keinen Zusammenhang.«
»Sie haben keinen Grund, sich zu schämen, Miss Acton.«
» Ich habe keinen Grund, mich zu schämen?«
Ich hörte die Betonung auf dem Ich , konnte sie aber nicht entschlüsseln. »Wir sind nicht verantwortlich für unsere Gefühle. Daher brauchen Gefühle keine Scham auszulösen.«
»Das ist die albernste Bemerkung, die ich je in meinem Leben gehört habe.«
»Ach, wirklich?«, konterte ich. »Und was ist mit meiner Frage, ob Sie etwas zu fürchten haben?«
»Natürlich können Gefühle bei Menschen Scham auslösen. Das passiert doch ständig.«
»Schämen Sie sich dafür, was vorgefallen ist, als Sie zum ersten Mal Ihre Stimme verloren haben?«
»Sie haben keine Ahnung, was vorgefallen ist.« Obwohl sie
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