Morddeutung: Roman (German Edition)
nicht so klang, machte sie auf einmal einen zerbrechlichen Eindruck.
»Deshalb frage ich ja.«
»Aber ich werde es Ihnen nicht sagen.« Sie erhob sich vom Sofa. »Das ist keine Heilkunst. Das ist … Schnüffelei .« Ihre Stimme wurde lauter. »Mrs. Biggs? Mrs. Biggs, sind Sie da?« Die Tür flog auf, und die Dienerin kam hereingeschossen. Offensichtlich hatte sie die ganze Zeit im Gang ausgeharrt, zweifellos mit dem Ohr am Schlüsselloch. Miss Acton wandte sich wieder an mich. »Dr. Younger, ich gehe jetzt aus, um ein paar Dinge einzukaufen, da niemand zu wissen scheint, wie lang ich hier im Hotel bleiben muss. Ich bin sicher, Sie finden allein in Ihr Zimmer zurück.«
Der Bürgermeister ließ Hugel eine Stunde lang im Vorzimmer schmoren. Der schon unter normalen Umständen reizbare Coroner wirkte ziemlich aufgebracht. »Das ist Behinderung der Ermittlungsarbeiten!«, schäumte er, als er endlich in McClellans Büro vorgelassen wurde. »Ich verlange eine Untersuchung.«
George Brinton McClellan jr. – der Sohn des berühmten Generals aus dem Sezessionskrieg – war der intellektuell begabteste und fortschrittlichste Mann, der je das Amt des Bürgermeisters von New York innegehabt hatte. Im Jahr 1909 waren nur eine Handvoll Amerikaner als ausgewiesene Kenner der italienischen Geschichte anerkannt; McClellan gehörte zu ihnen. Mit dreiundvierzig war er bereits als Herausgeber einer Zeitung, als Anwalt, Autor, Kongressabgeordneter, als Dozent für europäische Geschichte an der Princeton University, Ehrenmitglied der American Society of Architects und als Bürgermeister der größten Stadt des Landes in Erscheinung getreten. Als die Stadträte von New York 1908 eine Verfügung erließen, die Frauen das Rauchen in der Öffentlichkeit untersagte, legte McClellan sein Veto ein.
Allerdings saß er als Bürgermeister nicht allzu fest im Sattel. In knapp neun Wochen stand die nächste Wahl an, und wenngleich die Kandidaten noch nicht offiziell benannt waren, lag McClellan auch von keiner größeren Partei oder Gruppierung ein Nominierungsangebot vor. Er hatte zwei potenziell fatale politische Fehler begangen. Erstens hatte er 1905 mit knappem Vorsprung William Randolph Hearst besiegt, der seither seine Zeitungen mit Sensationsberichten über McClellans schamlose Korruption gefüllt hatte. Zweitens hatte er mit der Tammany Hall gebrochen, die ihn wegen seiner Unbestechlichkeit hasste. Die Tammany Hall hatte in New York das Sagen über die Demokratische Partei, und die Demokraten hatten das Sagen in der Stadt. Das war ein äußerst lohnendes Arrangement für die Tammany-Führerschaft, die die Stadt im Lauf der Jahre um mindestens 500 Millionen Dollar erleichtert hatte. McClellan war ursprünglich ein Tammany-Kandidat gewesen, weigerte sich aber nach seiner Wahl, den von ihm geforderten dreisten Postenschacher mitzumachen. Im Gegenteil, er verjagte besonders korrupte Beamte und erhob Anklage gegen viele andere. Er hoffte, der Tammany Hall die Kontrolle über die Partei entreißen zu können, hatte dieses Ziel aber noch nicht erreicht.
Auf dem Walnussschreibtisch des Bürgermeisters lag neben den fünfzehn großen Tageszeitungen der Stadt eine Mappe mit Bauplänen. Diese zeigten eine hoch aufragende Hängebrücke, die in zwei riesigen, fabelhaft schlanken Türmen verankert war. Im oberen Stockwerk waren Straßenbahnen abgebildet, die die Brücke überquerten, während es unten sechs Spuren für Pferdewagen-, Automobil- und Bahnverkehr gab. »Wissen Sie eigentlich, Hugel«, bemerkte der Bürgermeister, »dass Sie heute schon der fünfte Mensch sind, der eine Untersuchung der einen oder anderen Art fordert?«
Der Coroner ließ sich nicht beirren. »Wo ist die Leiche geblieben? Ist sie vielleicht aufgestanden und aus eigener Kraft weggegangen?«
»Schauen Sie sich das an.« Der Blick des Bürgermeisters hing an den Bauplänen. »Das ist die Manhattan Bridge. Ihre Errichtung hat dreißig Millionen gekostet. Ich werde sie noch dieses Jahr eröffnen, und wenn es meine letzte Amtshandlung ist. Dieser Bogen da auf der New Yorker Seite ist eine vollkommene Nachbildung der Porte St. Denis in Paris, nur in doppelter Größe. In hundert Jahren wird diese Brücke …«
»Bürgermeister McClellan, diese Miss Riverford …«
»Ich bin informiert über Miss Riverford«, unterbrach ihn McClellan in scharfem Ton. Er blickte Hugel direkt in die Augen. »Was soll ich jetzt Banwell erzählen? Und was soll er den armen Angehörigen
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