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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Erhabene, Geistige. Ich zum Beispiel glaube nicht, dass die Seele ihrem Wesen nach fleischlich ist. Und Sie?«
    »Ich bin mir nicht sicher, Dr. Jung.«
    »Aber die Idee erscheint Ihnen nicht verlockend. Sie spricht Sie nicht als solche an. Bei denen ist das anders.«
    Ich musste nachfragen, wen er meinte.
    »Alle«, antwortete Jung. »Brill, Ferenczi, Adler, Abraham, Stekel – der ganze Haufen. Er umgibt sich mit diesen … dieser Art von Leuten. Sie wollen alles niederreißen, was erhaben ist, wollen es auf Genitalien und Exkremente reduzieren. Doch die Seele lässt sich nicht auf den Körper reduzieren. Selbst Einstein, der auch zu denen gehört, glaubt nicht, dass sich Gott so einfach beseitigen lässt.«
    »Albert Einstein?«
    »Er ist oft zum Abendessen bei mir zu Gast. Aber auch er hat diese Neigung zum Reduzieren. Am liebsten möchte er das ganze Universum auf mathematische Gesetze zusammenkürzen. Es handelt sich offenkundig um ein Charakteristikum des jüdischen Denkens. Des männlichen jüdischen Denkens, versteht sich. Die jüdische Frau ist einfach nur aggressiv. Brills Gattin zum Beispiel ist eine typische Vertreterin ihrer Rasse. Intelligent, nicht unattraktiv, aber unglaublich aggressiv.«
    »Ich glaube nicht, dass Rose Jüdin ist, Dr. Jung.«
    »Rose Brill?« Jung lachte. »Eine Frau mit so einem Namen kann nur einer Religion angehören.«
    Ich gab keine Antwort. Offensichtlich hatte Jung vergessen, dass Rose nicht immer Brill geheißen hatte.
    »Der Arier«, fuhr Jung fort, »ist seinem Wesen nach mythisch. Er versucht nicht, alles auf die Ebene des Menschen herunterzuholen. Hier in Amerika gibt es ebenfalls eine Tendenz zur Reduktion, aber sie ist anders. Alles hier ist wie für Kinder gemacht. Alles ist so einfach, dass es auch Kinder begreifen: die Schilder, die Werbung, alles. Sogar der Gang der Leute mit diesen heftig schwingenden Armen ist kindisch. Ich habe den Verdacht, dass das auf eure Vermischung mit den Negern zurückzuführen ist. Neger sind eine gutmütige Rasse und sehr religiös, aber äußerst einfältig. Und sie üben einen gewaltigen Einfluss auf euch Amerikaner aus. Mir ist aufgefallen, dass die Südstaatler sogar mit einem Negerakzent sprechen. Das ist auch die Erklärung für das Matriarchat in eurem Land. Die Frau ist in Amerika zweifellos die beherrschende Figur. Die amerikanischen Männer sind Lämmer, die Frauen übernehmen die Rolle des reißenden Wolfs.«
    Die Farbe in Jungs Gesicht wollte mir nicht gefallen. Zuerst hatte ich darin eine Besserung gesehen, doch jetzt erschien er mir zu erhitzt. Auch seine Gedankengänge fand ich aus mehreren Gründen besorgniserregend. Seine Äußerungen waren sprunghaft, seine Logik fehlerhaft, seine Andeutungen bestürzend. Obendrein hielt sich Jung, obschon er sich erst seit zwei Tagen im Land befand, anscheinend für ausgesprochen gut informiert, was Amerika anging – vor allem was die amerikanischen Frauen betraf. Um das Thema zu wechseln, teilte ich ihm mit, dass ich gerade meine erste Sitzung mit Miss Acton beendet hatte.
    Jungs Stimme wurde eisig. »Was?«
    »Sie hat oben ein Zimmer.«
    »Sie analysieren dieses Mädchen … Sie, hier im Hotel?«
    »Ja, Dr. Jung.«
    »Ich verstehe.« Nachdem er mir auf nicht besonders überzeugende Weise viel Erfolg gewünscht hatte, erhob er sich zum Gehen. Ich bat ihn, Dr. Onuf einen Gruß auszurichten. Einen Augenblick musterte er mich, als hätte ich wirres Zeug gefaselt. Dann versicherte er mir, er werde meiner Bitte gerne nachkommen.

KAPITEL ACHT
     
    Am Ostufer des Hudson River, knapp hundert Kilometer nördlich von New York, stand eine massive, weit ausgedehnte viktorianische Backsteinanlage aus dem späten 19. Jahrhundert mit sechs Flügeln, kleinen Fenstern und einem zentralen Turm. Das war das Matteawan State Hospital für geisteskranke Straftäter.
    Die Matteawan-Anstalt verfügte über relativ geringe Sicherheitsvorkehrungen. Schließlich waren die fünfhundertfünfzig Insassen eigentlich keine Kriminellen, sondern nur geisteskranke Straftäter. Viele waren überhaupt nicht angeklagt worden, und die, gegen die ein Verfahren eröffnet worden war, waren aufgrund ihrer Unzurechnungsfähigkeit für nicht schuldig befunden worden.
    Im Jahr 1909 stellten die Kenntnisse über Geisteskrankheit noch keine systematische Wissenschaft dar. Bei zehn Prozent der in der Matteawan-Anstalt untergebrachten Menschen hatten die Ärzte eine allein durch fortgesetzte Masturbation ausgelöste

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