Morddeutung: Roman (German Edition)
Wann lief ihm davon. In spätestens zwei Wochen mussten die Kandidaten für das Bürgermeisteramt bekannt gegeben werden. Auf eine Nominierung durch Tammany Hall konnte er nicht mehr hoffen. Seine einzige Chance war, dass er als unabhängiger oder Gemeinschaftskandidat ins Rennen ging, aber ein Wahlkampf dieser Art kostete viel Geld. Außerdem erforderte er eine gute Presse – und keine Nachrichten über eine Serie ungeklärter Überfälle auf junge Damen der Gesellschaft. »Rufen Sie Banwell zurück«, bat er Mrs. Neville. »Richten Sie ihm bitte aus, dass er mich in eineinhalb Stunden im Hotel Manhattan treffen soll. Er wird nichts dagegen haben, weil er sowieso in der Nähe zu tun hat. Und holen Sie mir Littlemore her.«
Eine halbe Stunde später steckte der Detective seinen Kopf durch die Bürotür. »Sie wollten mich sprechen, Mr. Mayor?«
McClellan kam gleich zur Sache. »Mr. Littlemore, wissen Sie, dass es einen zweiten Überfall gegeben hat?«
»Ja, Sir. Mr. Hugel hat mich verständigt, Sir.«
»Gut. Dieser Fall ist für mich von besonderer Bedeutung, Detective. Ich kenne Acton persönlich, und George Banwell ist ein alter Freund von mir. Ich möchte über sämtliche Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden. Und ich verlange größte Diskretion. Sie marschieren jetzt im Laufschritt zum Hotel Manhattan. Suchen Sie Dr. Younger, und finden Sie heraus, ob er irgendwelche Fortschritte erzielt hat. Wenn es neue Informationen gibt, rufen Sie sofort hier an. Und, Detective, verhalten Sie sich unauffällig. Es darf sich auf keinen Fall herumsprechen, dass wir eine mögliche Mordzeugin im Hotel haben. Das Leben des Mädchens kann davon abhängen. Haben Sie verstanden?«
»Ja, Mr. Mayor«, erwiderte Littlemore. »Bin ich Ihnen direkt unterstellt, Sir, oder Captain Carey von der Mordkommission?«
»Sie sind Mr. Hugel und mir unterstellt. Ich will, dass dieser Fall gelöst wird. Um jeden Preis. Hat Ihnen der Coroner die Beschreibung des Mörders gegeben?«
»Ja, Sir.« Littlemore zögerte. »Ähm, eine Frage, Sir. Was ist, wenn die Beschreibung des Coroners falsch ist?«
»Haben Sie irgendeinen Grund, sie für falsch zu halten?«
»Ich glaube …« Littlemore stockte. »Ich glaube, ein Chinese könnte in die Sache verwickelt sein.«
»Ein Chinese? Haben Sie das Mr. Hugel erzählt?«
»Er ist anderer Meinung, Sir.«
»Verstehe. Nun, mein Rat lautet, vertrauen Sie ruhig auf Mr. Hugel. Ich weiß, in manchen Punkten kann er recht … empfindlich sein, Detective, aber Sie müssen auch bedenken, wie schwer es für einen ehrlichen Mann ist, von allen unbeachtet seine Arbeit zu tun, während unehrliche Leute reich und berühmt werden. Deswegen ist Korruption so schädlich. Sie bricht den Willen der Guten und Anständigen. Hugel ist äußerst kompetent. Und er hält große Stücke auf Sie, Detective. Er hat mich ausdrücklich darum gebeten, Sie auf diesen Fall anzusetzen.«
»Tatsächlich, Sir?«
»Tatsächlich. Und jetzt los, Mr. Littlemore.«
Ich wollte gerade das Hotel verlassen, als ich auf das Mädchen und ihre Dienerin Mrs. Biggs stieß, die zum Einkaufen wollten. Soeben war eine Droschke für sie vorgefahren. Da die tief eingegrabenen Furchen aus Dreck und eingetrocknetem Schlamm sie auf dem Weg zur Kutsche behinderten, hob ich Miss Acton in den Wagen. Ein wenig peinlich berührt bemerkte ich, dass ich ihre schlanke Taille fast mit meinen Händen umspannen konnte. Ich traf Anstalten, auch Mrs. Biggs zu helfen, aber die gute Frau wollte nichts davon wissen.
Zu Miss Acton sagte ich, dass ich mich schon freue, sie morgen Vormittag zu sehen. Sie fragte mich, was ich meine. Natürlich hatte ich, wie ich ihr erklärte, von ihrer nächsten psychoanalytischen Sitzung gesprochen. Meine Hand lag auf der offenen Tür ihrer Droschke. Mit einem Ruck schlug sie die Tür zu, sodass ich fast den Halt verlor. »Ich weiß nicht, was mit euch allen los ist«, fauchte sie, »ich will keine Sitzungen mehr. Ich werde mich von allein an alles erinnern. Lasst mich einfach zufrieden.«
Die Droschke fuhr ab. Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu beschreiben, als ich dem ratternden Wagen nachsah. Enttäuschung wäre ein viel zu schwacher Ausdruck. Ich wünschte mir, mein allzu fester Körper würde auseinanderbrechen und sich im Straßenstaub auflösen. Brill hätte die Analyse übernehmen sollen. Jeder Allgemeinmediziner vom Dorf, jeder Quacksalber wäre besser gewesen, so grauenhaft schlecht hatte ich die Rolle des
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