Morddeutung: Roman (German Edition)
Gelegenheit zu sexueller Lust weitgehend oder ausschließlich unangenehme Gefühle auslöst.«
»Aber sie war doch erst vierzehn.«
»Und wie alt war Julia in ihrer Hochzeitsnacht?«
»Dreizehn«, räumte ich ein.
»Ein kerngesunder Mann in der Blüte seiner Jahre – von dem wir nur wissen, dass er kräftig, hochgewachsen, erfolgreich und gut aussehend ist – küsst ein Mädchen auf die Lippen. Offensichtlich ist er in einem Zustand sexueller Erregung. Und wir können sogar mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Nora mit dieser Erregung direkt in Berührung gekommen ist. Wenn sie sagt, dass sie noch heute weiß, wie es sich angefühlt hat, als er sie an sich gezogen hat, habe ich kaum Zweifel, welchen Teil seines Körpers sie gespürt hat. All das hätte bei einem gesunden Mädchen von vierzehn Jahren gewiss eine angenehme genitale Stimulation ausgelöst. Stattdessen wurde Nora von einem unangenehmen Gefühl überwältigt, das der Kehle zuzuordnen ist – von Ekel. Mit anderen Worten: Sie war schon lange vor diesem Kuss hysterisch.«
»Aber kann es nicht sein, dass ihr Banwells Avancen nicht … willkommen waren?«
»Das scheint mir kaum denkbar. Sie sind anderer Auffassung, Younger?«
Ich war tatsächlich – und aus tiefstem Herzen – anderer Auffassung, wenngleich ich mich bemüht hatte, mir nichts anmerken zu lassen.
Unbeirrt fuhr Freud fort. »Sie stellen sich vor, dass sich Mr. Banwell auf ein unschuldiges, widerstrebendes Opfer gestürzt hat. Aber vielleicht war sie es, die ihn verführt hat: einen stattlichen Mann, den besten Freund ihres Vaters. Solch eine Eroberung muss einem Mädchen ihres Alters sehr reizvoll erscheinen; außerdem hätte sie ihren Vater damit wahrscheinlich eifersüchtig gemacht.«
»Sie hat ihn doch zurückgewiesen.«
»Hat sie das tatsächlich? Nach dem Kuss hat sie sein Geheimnis gewahrt, selbst nachdem sie ihre Stimme wiedererlangt hatte. Richtig?«
»Ja.«
»Und passt das mehr dazu, dass eine Wiederholung des Vorfalls gefürchtet wird – oder eher dazu, dass sie gewünscht wird?«
Ich verstand Freuds Logik, aber damit schien mir die harmlose Erklärung für das Verhalten des Mädchens noch nicht widerlegt. »Aber sie hat sich danach geweigert, mit ihm allein zu sein.«
»Im Gegenteil«, entgegnete Freud. »Sie ist zwei Jahre später mit ihm an einem Seeufer spazieren gegangen, und einen romantischeren Ort kann man sich wohl kaum vorstellen.«
»Aber auch dort hat sie ihn zurückgewiesen.«
»Sie hat ihm eine Ohrfeige gegeben, ja. Das muss nicht unbedingt eine Zurückweisung sein. Ein Mädchen muss genauso wie ein Analysepatient erst einmal Nein sagen, bevor es Ja sagt.«
»Sie hat sich bei ihrem Vater beschwert.«
»Wann?«
»Sofort«, behauptete ich ein wenig vorschnell. Dann überlegte ich. »Nein, eigentlich weiß ich es nicht. Ich habe sie nicht gefragt.«
»Vielleicht hat sie darauf gewartet, dass Mr. Banwell noch einen Annäherungsversuch unternimmt, und als der ausgeblieben ist, war sie gekränkt und hat es ihrem Vater erzählt.« Ich blieb stumm, aber Freud merkte, dass ich nicht völlig überzeugt war. »Mein Junge«, fügte er hinzu, »Sie müssen bei dieser Sache auch bedenken, dass Sie nicht unvoreingenommen sind.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Sir.«
»Doch, das können Sie.«
Ich dachte nach. »Sie meinen, ich wünsche mir, dass Banwells Avancen für Miss Acton nicht willkommen waren?«
»Sie haben die ganze Zeit Noras Ehre verteidigt.«
Mir wurde bewusst, dass ich immer noch von »Miss Acton« sprach, während Freud sie bei ihrem Vornamen nannte. Außerdem wurde mir bewusst, das mir das Blut ins Gesicht stieg. »Das liegt einfach daran, dass ich in sie verliebt bin.«
Freud schwieg.
»Sie müssen die Analyse übernehmen, Dr. Freud. Oder Brill. Es wäre besser gewesen, wenn die Wahl gleich auf Brill gefallen wäre.«
»Unsinn. Sie ist Ihre Patientin, Younger. Sie machen Ihre Sache sehr gut. Aber Sie dürfen Ihre Gefühle dabei nicht so ernst nehmen. So was ist bei einer Psychoanalyse unvermeidlich. Es gehört zur Behandlung. Nora gerät wahrscheinlich gerade unter den Einfluss der Übertragung, so wie Sie unter den der Gegenübertragung geraten. Sie müssen diese Gefühle als Daten behandeln und sie entsprechend einsetzen. Sie sind fiktiv. Sie sind nicht wirklicher als die Gefühle, die ein Schauspieler auf der Bühne erzeugt. Ein guter Hamlet-Darsteller wird Wut auf seinen Onkel empfinden, aber er wird nicht annehmen,
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