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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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tatsächlich zornig auf seinen Schauspielerkollegen zu sein. Für die Analyse gilt das Gleiche.«
    Eine Zeit lang blieben wir beide stumm. Dann stellte ich eine Frage. »Haben Sie schon einmal etwas für eine Patientin empfunden, Dr. Freud?«
    »Es hat Zeiten gegeben, in denen mir solche Gefühle willkommen waren. Sie haben mich daran erinnert, dass es noch so etwas wie Begehren in mir gab. Ja, ich muss gestehen, manchmal bin ich der Gefahr nur knapp entronnen. Aber Sie dürfen auch nicht vergessen, dass ich schon viel älter war als Sie, als ich mit der Psychoanalyse begonnen habe. Dadurch war es viel leichter für mich. Außerdem bin ich verheiratet. Zu dem Wissen, dass diese Gefühle fiktiv sind, kommt in meinem Fall eine moralische Verpflichtung, die ich nicht missachten konnte.«
    Ich wartete schweigend.
    Nach einer Weile ergriff Freud erneut das Wort. »Doch genug davon. Die Hauptsache ist jetzt, das schon bestehende Trauma zu entdecken, das zu der hysterischen Reaktion des Mädchens auf dem Dach geführt hat. Erklären Sie mir eins: Warum hat Nora der Polizei nicht erzählt, wo ihre Eltern sind?«
    Diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Miss Acton hatte mir gesagt, dass sich ihre Eltern auf George Banwells Landsitz aufhielten. Gegenüber der Polizei hatte sie dies jedoch mit keiner Silbe erwähnt und stattdessen zugelassen, dass eine Nachricht nach der anderen zum Sommerhäuschen der Familie geschickt wurde, das völlig leer stand. Andererseits fand ich ihre Schweigsamkeit in diesem Punkt gar nicht so rätselhaft. Ich habe schon immer Leute beneidet, die in Krisenzeiten von ihren Eltern echten Trost empfangen können; einen Trost, der gewiss mit keinem anderen vergleichbar ist. Mir war dieses Glück nie beschieden. »Vielleicht«, erwiderte ich, »wollte sie ihre Eltern nach dem Überfall nicht um sich haben?«
    »Vielleicht. Ich selbst habe meine schlimmsten Selbstzweifel vor meinem Vater verborgen gehalten, solange er lebte. Wie Sie.« Diese Feststellung traf Freud, als wäre es eine allgemein bekannte Tatsache, obwohl ich diese Dinge mit keinem Wort je erwähnt hatte. »Aber in dieser Verheimlichung liegt immer auch ein neurotisches Element. Setzen Sie morgen bei Nora an diesem Punkt an, Younger. Das ist mein Rat. Irgendwas ist mit diesem Landsitz. Zweifellos gibt es da einen Zusammenhang mit dem unbewussten Begehren des Mädchens nach ihrem Vater. Ich frage mich …« Er blieb stehen und schloss die Augen. Nach längerem Schweigen schlug er sie wieder auf. »Ich hab’s.«
    »Was?«
    »Nun, Younger, ich habe eine Vermutung, aber ich werde sie Ihnen nicht verraten. Ich möchte Sie nicht auf irgendwelche Gedanken bringen – und Nora auch nicht. Finden Sie heraus, ob sie eine Erinnerung im Zusammenhang mit diesem Landsitz hat, eine Erinnerung, die länger zurückliegt als das Erlebnis auf dem Dach. Und denken Sie daran, undurchlässig für Nora zu sein. Sie müssen wie ein Spiegel sein, der nur das zurückgibt, was sie Ihnen zeigt. Vielleicht hat sie etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen. Möglicherweise will sie es Ihnen nicht erzählen. Aber Sie dürfen nicht lockerlassen.«

     
    Spätnachmittags am Dienstag hatte sich das Triumvirat erneut in der Bibliothek versammelt. Es gab viel zu besprechen. Einer der drei Herren hielt in seinen feingliedrigen langen Händen einen Bericht, den er vor Kurzem erhalten und den anderen vorgelesen hatte. Der Bericht enthielt unter anderem ein Konvolut von Briefen. »Die hier verbrennen wir nicht«, bemerkte er.
    »Ich hab es ja gesagt: Die sind alle zusammen degeneriert«, warf der beleibte Mann mit der rötlichen Gesichtsfarbe und den buschigen Koteletten ein. »Wir müssen sie ausmerzen, einen nach dem anderen.«
    »Das werden wir mit Sicherheit«, erwiderte der Erste. »Wir sind schon dabei. Aber zuerst werden wir sie für unsere Zwecke benutzen.«
    Es entstand eine kurze Pause. Dann meldete sich der dritte Mann, der mit dem schütteren Haar, zu Wort. »Was ist mit den Beweisen?«
    »Es wird keine Beweise geben«, entgegnete der Erste, »bis auf die, die wir absichtlich zurücklassen.«

     
    Detective Jimmy Littlemore stieg an der Kreuzung Seventysecond Street und Broadway aus der Untergrundbahn, der Haltestelle, die dem Balmoral am nächsten lag. Mr. Hugel mochte sich auf Banwell eingeschossen haben, aber Littlemore hatte seine eigenen Anhaltspunkte noch längst nicht abgeschrieben.
    Nach dem Verschwinden des Chinesen gestern Abend hatte Littlemore

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