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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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dass er dringend ins Hotel musste, brach Freud unser Gespräch ab. Ich verstand sofort, was los war. Zum Glück stand gerade ein Wagen bereit.
    Kaum hatten Freud und ich einen Fuß in das Hotel gesetzt, wurden wir von Jung angesprochen. Er musste auf Freuds Rückkehr gewartet haben. Mit unerklärlicher Heftigkeit baute er sich direkt vor Freud auf und versperrte ihm den Weg. Er musste unbedingt mit ihm reden, und zwar sofort. Doch der Augenblick war denkbar ungünstig gewählt. Sichtlich verlegen hatte mir Freud gerade mitgeteilt, wie dringend sein Bedürfnis war.
    »Großer Gott«, ächzte Freud, »lassen Sie mich durch. Ich muss in mein Zimmer.«
    »Warum? Haben Sie wieder … Ihr Problem?«
    »Sprechen Sie bitte leiser. Ja. Und jetzt lassen Sie mich vorbei. Ich hab es eilig.«
    »Das habe ich mir gedacht. Ihre Enuresis wieder mal.« Jung hatte den medizinischen Ausdruck für unfreiwilliges Wasserlassen gebraucht. »Das ist doch psychisch bedingt.«
    »Jung, es ist …«
    »Es ist eine Neurose. Ich kann Ihnen helfen!«
    »Es ist …« Freud verstummte mitten im Satz. Mit einem Mal hatte sich seine Stimme vollkommen verändert. Er sprach gleichmäßig und sehr leise, den Blick direkt auf Jung gerichtet. »Jetzt ist es zu spät.«
    Es folgte ein äußerst peinliches Schweigen. Dann fuhr Freud fort. »Ich muss Sie beide bitten, nicht nach unten zu schauen. Jung, Sie drehen sich um und gehen vor mir. Younger, Sie bleiben links von mir. Nein, weiter links. Und jetzt bitte zum Aufzug. Los.«
    Derart aufgestellt zogen wir als stocksteife Prozession Richtung Fahrstuhl. Ein Angestellter am Empfang starrte zu uns herüber; er schien irritiert, hatte aber wohl nichts gemerkt. Zu meiner großen Verwunderung hörte Jung nicht auf zu reden. »Ihr Traum von Graf Thun – das ist der Schlüssel zu allem. Wollen Sie mir nicht erlauben, ihn zu analysieren?«
    »Ich bin im Moment wohl kaum in der Lage, Ihnen Ihre Bitte abzuschlagen«, erwiderte Freud.
    Freuds Traum von Graf Thun, dem früheren österreichischen Premierminister, war jedem bekannt, der sich mit seinem Werk beschäftigt hatte. Als wir die Fahrstühle erreichten, wollte ich mich zurückziehen. Doch Jung hielt mich auf, weil er mich brauchte, wie er sagte. Wir ließen einen Aufzug fahren und stiegen in den nächsten, den wir für uns allein hatten.
    Im Fahrstuhl redete Jung weiter. »Graf Thun steht für mich . Thun: Jung – es springt einem förmlich ins Auge. Beide Namen haben vier Buchstaben. Beide enthalten das un , dessen Bedeutung auf der Hand liegt. Seine Familie stammte ursprünglich aus Deutschland, musste aber auswandern; so wie meine. Er ist von höherer Geburt als Sie; so wie ich. Er ist ein Ausbund an Arroganz; und mir wird immer wieder Arroganz vorgeworfen. In Ihrem Traum ist er Ihr Feind, aber auch ein Mitglied Ihres inneren Zirkels, jemand, der Ihnen untersteht, der aber auch eine Bedrohung für Sie ist – und ein Arier, eindeutig ein Arier. Die Schlussfolgerung ist unausweichlich: Sie haben von mir geträumt, aber Sie mussten es verdrehen, weil Sie nicht zugeben wollten, dass Sie mich als Bedrohung betrachten.«
    »Carl«, sagte Freud langsam. »Ich hatte diesen Traum von Graf Thun 1898. Vor über zehn Jahren. Sie und ich, wir kennen uns erst seit 1907.«
    Die Tür öffnete sich. Der Korridor war leer. Freud trat rasch hinaus, und wir folgten ihm. Ich konnte mir nicht vorstellen, was in Jungs Kopf vorging und wie er antworten würde. Ich musste nicht lange warten.
    »Das weiß ich! Doch wir träumen nicht nur Vergangenes, sondern auch Künftiges.« Seine Augen leuchteten unnatürlich hell. »Younger, Sie können es bezeugen!«
    »Ich?«
    »Ja, natürlich Sie. Sie waren schließlich dabei. Sie haben alles gesehen.« Plötzlich schien Jung etwas anderes einzufallen, und er wandte sich wieder an Freud. »Lassen wir das. Ihre Enuresis bedeutet Ehrgeiz. Sie ist ein Mittel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – so wie Sie es gerade unten in der Empfangshalle getan haben. Sie tritt immer dann auf, wenn Sie das Gefühl haben, einem Feind gegenüberzustehen, einem einzelnen Gegner, einem un , den Sie überwinden müssen. Dieser eine bin ich, und daher ist Ihr Problem wieder aufgetreten.«
    Wir kamen zu Freuds Zimmer. Er fischte in seiner Tasche nach dem Schlüssel – sicherlich keine angenehme Aufgabe in diesem Moment. Schließlich fiel der Schlüssel auf den Boden. Niemand rührte sich. Dann hob Freud ihn auf. Als er wieder aufrecht stand, blickte er

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