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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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haben, dass er sie erledigt hat. Oder – oder vielleicht hatte er Angst, dass sie ihn wiedererkennt. Jedenfalls ist es verständlich, dass er so erschrocken ist, als er sie gesehen hat.«
    »Warum meinen Sie, dass er der Täter ist?«
    »Littlemore, er ist an die eins fünfundachtzig groß. Er ist Mitte vierzig. Er ist reich. Sein Haar ist dunkel, wird aber inzwischen grau. Er ist Rechtshänder. Er wohnt im gleichen Gebäude wie das erste Opfer, und beim Anblick des zweiten ist er in Panik geraten.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Von Ihnen. Sie haben mir selbst von dem Kutscher erzählt, der gesagt hat, dass Banwell vor Schreck den Gaul zurückgerissen hat. Dafür kann es doch nur eine Erklärung geben.«
    »Nein, ich meine, woher wissen Sie, dass er Rechtshänder ist?«
    »Weil ich ihn gestern kennengelernt habe, Detective, und meine Augen aufmache.«
    »Na, Sie sind vielleicht ein Kaliber, Mr. Hugel. Und ich? Bin ich Rechtshänder oder Linkshänder?« Der Detective legte die Hände hinter den Rücken.
    »Lassen Sie das, Littlemore!«
    »Ich weiß nicht, Mr. Hugel. Sie hätten ihn sehen sollen, als das Ganze vorbei war. Da war er die Ruhe selbst. Hat einfach Befehle gegeben, damit alles wieder aufgeräumt wird.«
    »Pah! Dann ist er eben nicht nur ein Mörder, sondern auch noch ein guter Schauspieler. Wir haben unseren Mann, Detective.«
    »Von ›haben‹ kann eigentlich nicht die Rede sein.«
    »Da muss ich Ihnen recht geben«, sinnierte der Coroner. »Ich habe noch immer keine handfesten Beweise. Wir brauchen noch was anderes.«

KAPITEL ZEHN
     
    Nachdem wir das Metropolitan Museum verlassen hatten, nahmen wir eine Droschke durch den Park zum neuen Campus der Columbia University mit ihrer fantastischen Bibliothek. Zum letzten Mal war ich 1897 dort gewesen, mit fünfzehn Jahren. Damals hatte meine Mutter uns Kinder zur Einweihung des Schermerhorn Building mitgeschleift. Zum Glück wusste Brill nichts von meiner vollkommen belanglosen Verbindung zu diesem Clan, sonst hätte er es zweifellos gegenüber Freud erwähnt.
    Wir besuchten die psychiatrische Klinik, in der Brill eine Praxis unterhielt. Danach äußerte Freud den Wunsch, von meiner Sitzung mit Miss Acton zu hören. Während Brill und Ferenczi also zurückblieben und über therapeutische Methoden diskutierten, machten Freud und ich einen Spaziergang auf dem Riverside Drive, dessen breite Promenade einen wunderbaren Blick auf die Palisades bot, die wilden und zerklüfteten Klippen auf der anderen Seite des Hudson, die schon zu New Jersey gehörte.
    Mit schonungsloser Offenheit schilderte ich Freud sowohl die erste, völlig misslungene Sitzung mit Miss Acton als auch die zweite, die zu der Enthüllung über Mr. Banwell, den Freund ihres Vaters, geführt hatte. Er befragte mich eingehend und wollte jede scheinbar noch so unbedeutende Einzelheit hören, und zwar nicht als paraphrasierende Zusammenfassung, sondern im exakten Wortlaut. Am Ende trat Freud seine Zigarre auf dem Gehsteig aus und fragte, ob ich das Erlebnis auf dem Dach vor drei Jahren für die Ursache des damaligen Stimmverlustes von Miss Acton hielt.
    »Es scheint mir schon so«, erwiderte ich. »Es gab eine Beteiligung des Mundes und den unmissverständlichen Befehl, nichts zu verraten. Ihr ist etwas Unaussprechliches angetan worden, also hat sie sich unfähig zum Sprechen gemacht.«
    »Gut. Dann hat also der beschämende Kuss auf dem Dach die Vierzehnjährige in die Hysterie getrieben?« Freud blickte mich erwartungsvoll an.
    Ich verstand: Er meinte das Gegenteil des Gesagten. Nach Freuds Auffassung konnte das Erlebnis auf dem Dach nicht die Ursache für Miss Actons Hysterie sein. Dieses Erlebnis lag nicht weit zurück in ihrer Kindheit, und es war auch nicht ödipal. Doch nur Kindheitstraumata führen zu Neurosen, auch wenn in der Regel ein späterer Vorfall der Auslöser ist, der die Erinnerung an den lang verdrängten Konflikt wachruft und dadurch hysterische Symptome erzeugt. »Dr. Freud«, fragte ich vorsichtig, »ist es nicht möglich, dass in diesem Fall ausnahmsweise ein Pubertätstrauma die Hysterie verursacht hat?«
    »Es ist möglich, mein Junge, allerdings spricht eine Sache dagegen: Das Verhalten des Mädchens auf dem Dach war bereits ganz und gar hysterisch.« Freud zog eine weitere Zigarre aus der Tasche, überlegte es sich aber offensichtlich anders und steckte sie zurück. »Ich möchte Sie kurz an die Definition des Hysterikers erinnern: eine Person, in der die

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