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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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und rief: »Wer ist da?«
    »Ich bin’s nur, Sir«, antwortete eine Stimme, die in der komprimierten Luft merkwürdig fern klang.
    » Wer ich?«, fragte der Mann im schwarzen Frack und Fliege.
    »Malley, Sir.« Aus dem Schatten zweier sich kreuzender Balken trat ein rothaariger Mann, klein, aber mit dem Leibesumfang eines Bären, verdreckt, zerzaust und mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
    »Seamus Malley?«
    »Der einzig Wahre«, antwortete Malley. »Sie werden mich doch jetzt nicht rauswerfen, Sir?«
    »Was treibst du denn hier unten, verdammt? Wer ist sonst noch hier?«
    »Keine Menschenseele. Es ist bloß, dass ich am Dienstag zwölf Stunden arbeiten muss und anschließend gleich die Frühschicht am Mittwoch.«
    »Du schläfst hier unten?«
    »Wozu soll man lang rauffahren, frag ich mich, wenn man dann sowieso gleich wieder runtermuss?« Malley war bei seinen Kollegen sehr beliebt, bekannt für seine herrliche Tenorstimme, die er in den hallenden Kammern des Senkkastens gerne erklingen ließ, und seine scheinbar unbegrenzte Fähigkeit zum Konsum alkoholischer Getränke jeder Art. Mit letzterer Begabung hatte er sich vorgestern, also am Sonntag, im Malley-Haushalt größere Scherereien eingehandelt, denn an diesem Tag durfte normalerweise überhaupt kein Alkohol getrunken werden. Seine aufgebrachte Frau warf ihn hinaus und ließ ihn wissen, dass er sich erst nächsten Sonntag wieder blicken lassen sollte, falls er bis dahin wieder nüchtern war. In Wahrheit war es diese Anordnung, die Malley dazu genötigt hatte, sein Lager im Senkkasten aufzuschlagen. »Da hab ich mir gesagt, Malley, eigentlich kannst du doch gleich hier unten pennen, das merkt sowieso keiner.«
    »Du hast mich hier die ganze Zeit beobachtet, Seamus, stimmt’s?«
    »Nie im Leben, Sir. Ich hab fest geschlafen.« Malley zitterte tatsächlich wie jemand, der an einem kalten, feuchten Ort genächtigt hat.
    Der Mann im schwarzen Frack hatte große Zweifel an dieser Behauptung, obwohl sie vielleicht sogar wahr war. Aber ob wahr oder nicht, das spielte keine Rolle, weil Malley ihn auf jeden Fall jetzt gesehen hatte. »Schande über mich, Seamus, wenn ich dich wegen so was rausschmeiße. Weißt du denn nicht, dass meine Mutter – Gott sei ihrer Seele gnädig – Irin war?«
    »Das hab ich nicht gewusst, Sir.«
    »Wenn ich’s dir sage. Hat sie mich nicht vor dreißig Jahren an die Hand genommen, damit ich sehe, wie Parnell persönlich vom Schiff kommt? Da oben war es, praktisch direkt über unseren Köpfen.«
    »Sie sind ein Glückspilz, Sir«, bemerkte Malley.
    »Ich sag dir, was du brauchst, Seamus: eine Flasche guten irischen Whiskey, damit du hier unten ein bisschen Gesellschaft hast. Und da hab ich genau das Richtige in meinem Wagen. Warum kommst du nicht einfach mit mir rauf, dann geb ich sie dir, aber natürlich erst nach einem kleinen gemeinsamen Schluck. Dann kannst du wieder runterfahren und es dir bequem machen.«
    »Danke, Sir, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«
    »Jetzt quatsch nicht lange und komm.« Nachdem er Malley auf die Rampe zum Aufzug geführt hatte, legte der Mann im schwarzen Frack den Hebel um, um die Fahrt nach oben zu beginnen. »Eigentlich müsste ich Miete von dir verlangen, das wäre nur fair.«
    »Für die Aussicht allein schon würde ich jeden Preis zahlen. Hoppla, Sir, ich glaube, wir haben den ersten Haltepunkt verpasst. Sie müssen anhalten.«
    »Keine Spur«, entgegnete der größere Mann. »Du kommst doch in fünf Minuten wieder runter, Seamus. Wenn man gleich wieder runterfährt, muss man nicht anhalten.«
    »Ist das so, Sir?«
    »Ja, so ist es. Steht alles in den Tabellen.« Der Mann mit der schwarzen Fliege zog tatsächlich ein Exemplar der Dekompressionstabellen aus seiner Weste und wedelte damit herum. Was er sagte, stimmte tatsächlich. Ein Mann aus dem Senkkasten konnte kurz nach oben und gleich wieder nach unten fahren, wenn er sich nicht länger als fünf Minuten an der Oberfläche aufhielt. »In Ordnung, bist du bereit zum Luftanhalten?«
    »Zum Luftanhalten?«
    Der Mann im schwarzen Frack riss die Bremse nach unten und brachte den Aufzug mit einem Ruck zum Stehen. »Was soll das, Mann?«, rief er. »Ich sag dir doch, wir fahren direkt rauf. Du musst von hier bis oben die Luft anhalten. Willst du vielleicht an den Bends krepieren?« Sie hatten rund ein Drittel der Schachthöhe erreicht und befanden sich noch etwa zwanzig Meter unter der Oberfläche. »Wie lang warst du hier unten, fünfzehn

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