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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Jung an. »Ich bezweifle sehr, dass ich Josephs seherische Fähigkeiten besitze, aber eins kann ich Ihnen verraten: Sie sind mein Erbe. Sie werden die Psychoanalyse nach meinem Tod erben, und schon davor werden Sie die führende Stellung in der Bewegung einnehmen. Dafür werde ich persönlich sorgen. Ich sorge bereits jetzt dafür. Das alles habe ich Ihnen schon gesagt, ich habe es den anderen mitgeteilt, und jetzt sage ich es noch einmal. Es gibt keinen anderen, Carl. Das müssen Sie mir einfach glauben.«
    »Dann erzählen Sie mir den Rest des Traums von Graf Thun!«, rief Jung. »Sie haben immer gesagt, dass es einen Teil des Traums gibt, den Sie noch nicht enthüllt haben. Wenn ich Ihr Erbe bin, erzählen Sie ihn mir. Er wird meine Analyse bestätigen, da bin ich mir sicher. Nun reden Sie schon!«
    Freud schüttelte den Kopf. Ich glaube, er lächelte – ein wenig kläglich vielleicht. »Mein Junge, es gibt Dinge, die nicht einmal ich preisgeben kann. Ich würde jede Autorität verlieren. Und jetzt lassen Sie mich bitte beide allein. Wir treffen uns in einer halben Stunde unten im Speisesaal.«
    Wortlos wandte sich Jung ab und stakste davon.

     
    Die Manhattan Bridge, die im Sommer 1909 kurz vor der Fertigstellung stand, war die letzte der drei großen Hängebrücken über den East River, die Manhattan Island mit Brooklyn verbanden, das bis 1898 eine eigene Stadt gewesen war. Diese Brücken – Brooklyn Bridge, Williamsburg Bridge und Manhattan Bridge – besaßen eine zur Zeit ihrer Errichtung noch nie da gewesene Stützweite und wurden vom Scientific American als größte Leistungen der Ingenieurskunst angepriesen, die die Welt je gesehen hatte. Zusammen mit der Erfindung des geflochtenen Stahlkabels war es vor allem eine geniale technische Innovation, die dies möglich machte: der Druckluftsenkkasten.
    Mit dem Senkkasten wurde ein bestimmtes Problem gelöst. Die wuchtigen Stützpfeiler für diese Brücken, die notwendig waren, um die Hängekabel zu halten, mussten auf einem fast dreißig Meter unter der Wasseroberfläche liegenden Fundament verankert werden. Diese Fundamente konnten nicht direkt auf dem weichen Flussbett errichtet werden. Unzählige Schichten aus Sand, Schlick, Schiefer, Lehm und Fels mussten ausgebaggert, herausgebrochen und manchmal sogar mit Dynamit weggesprengt werden, bis das Grundgestein erreicht war. Solche Ausgrabungen unter Wasser durchzuführen galt allgemein als unmöglich – bis jemand auf die Idee des Druckluftsenkkastens verfiel.
    Der Senkkasten war riesig und bestand fast zur Gänze aus Holz. Der Senkkasten der Manhattan Bridge auf der New Yorker Seite hatte eine Fläche von tausendsechshundert Quadratmetern. Seine Wände bestanden aus zahllosen Gelbkieferplanken, die zu einer Stärke von sieben Metern zusammengeschraubt und mit Millionen Fässern Werg, Pech und Lack abgedichtet waren. Der unterste Meter der Seitenwände war rundherum von innen und außen mit Kesselblech verstärkt. Die Konstruktion besaß ein Gesamtgewicht von fast dreißigtausend Tonnen.
    Ein Senkkasten besaß eine Decke, aber keinen Boden. Sein Boden war das Flussbett. Im Grunde war der Luftdrucksenkkasten nichts anderes als die größte je erbaute Taucherglocke.
    Im Jahr 1907 wurde der Senkkasten, von dem im Folgenden die Rede ist, auf den Grund des Flusses abgesenkt; die inneren Kammern waren natürlich voller Wasser. An Land begannen daraufhin Tag und Nacht gigantische Dampfmaschinen zu arbeiten, um durch Eisenrohre Luft in die große Kapsel zu pumpen. Die hineingepresste Luft entwickelte einen gewaltigen Druck und verdrängte das gesamte Wasser durch Bohrlöcher in den Wänden des Senkkastens. Dieser war über einen Aufzugschacht mit einem Pier verbunden. Mit diesem Aufzug konnten die Männer hinunter in den Senkkasten fahren und dort die komprimierte Luft atmen. So hatten sie unten direkten Zugang zum Flussbett und konnten Unterwasserbauarbeiten durchführen, die man bis vor Kurzem nicht für möglich gehalten hatte: das Behauen von Gestein, das Wegschaufeln von Schlamm, das Sprengen von Felsbrocken, das Verlegen von Beton. Der Schutt wurde durch raffiniert gestaltete Kammern ins Wasser entladen, die Fenster genannt wurden, obwohl man durch sie nichts sehen konnte. Dreihundert Leute konnten gleichzeitig in dem Senkkasten arbeiten.
    Aber dort unten lauerte eine unsichtbare Gefahr auf sie. Die Männer, die nach einem Arbeitstag aus dem allerersten Druckluftsenkkasten kamen – der für die Brooklyn

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