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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Stunden?«
    »Eher zwanzig, Sir.«
    »Zwanzig Stunden hier unten, Seamus. Du wärst gelähmt, wenn du es überhaupt überleben würdest. Ich sag dir jetzt, was du machen musst. Du holst tief Luft, so wie ich, und dann hältst du sie an. Bloß nicht ausatmen. Du wirst einen kleinen Druck spüren, aber du darfst trotzdem nicht ausatmen. Hast du kapiert?«
    Malley nickte. Beide Männer pumpten sich Luft in die Lunge. Dann setzte der Mann mit der schwarzen Fliege den Aufzug wieder in Gang. Je höher sie kamen, desto stärker wurde die Spannung in Malleys Brust. Der Mann im schwarzen Frack spürte keinen solchen Druck, weil er nur so tat, als würde er die Luft anhalten. In Wirklichkeit ließ er sie heimlich aus der Lunge strömen, während sich der Aufzug der Oberfläche näherte. Im hämmernden Donner der Dampfmaschinen war sein Atmen nicht zu hören.
    Malleys Brust begann zu schmerzen. Um anzuzeigen, dass er sich unwohl fühlte und die Luft kaum mehr anhalten konnte, deutete er auf Brust und Mund. Der Mann mit der schwarzen Fliege schüttelte den Kopf und hob mahnend den Zeigefinger, um Malley zu verstehen zu geben, dass er auf keinen Fall ausatmen durfte. Er winkte Malley zu sich und presste ihm die große Hand auf Mund und Nase, sodass die Atemwege komplett versiegelt waren. Er hob die Augenbrauen, wie um Malley zu fragen, ob es so besser war. Malley nickte mit einer Grimasse. Sein Gesicht wurde röter, seine Augen traten allmählich hervor, und als der Aufzug stehen blieb, hustete er unfreiwillig in die Hand des Frackträgers. Die Hand war mit Blut bedeckt.
    Die menschliche Lunge ist erstaunlich unelastisch. Sie kann sich nicht dehnen. Zwanzig Meter unter der Oberfläche, wo Malley zum letzten Mal Atem geholt hatte, lag der Luftdruck bei ungefähr drei Atmosphären, was hieß, dass Malleys Lunge ungefähr das Dreifache der normalen Luftmenge aufgenommen hatte. Je höher der Aufzug stieg, desto mehr breitete sich diese Luft aus. Seine Lunge wurde in kürzester Zeit über ihre Kapazität hinaus aufgeblasen wie ein überdehnter Ballon. Bald begannen die Alveolen in Malleys Lunge – die winzigen luftgefüllten Bläschen – in schneller Folge zu platzen. Die freigesetzte Luft drang in die Pleurahöhle ein – den Raum zwischen Brust und Lunge – und führte zu einer Erscheinung namens Pneumothorax: Ein Lungenflügel kollabierte.
    »Seamus, Seamus, du hast doch nicht etwa ausgeatmet, oder?« Sie waren oben angekommen, aber der Mann im schwarzen Frack traf keine Anstalten, die Tür zu öffnen.
    »Ich hab nicht ausgeatmet, das schwöre ich«, keuchte Malley. »Heilige Jungfrau im Himmel, was ist nur mit mir?«
    »Du hast einen Lungenflügel weniger, das ist alles«, erwiderte der groß gewachsene Mann. »Das bringt dich nicht um.«
    »Ich muss …« Malley sackte auf die Knie. »… mich hinlegen.«
    »Hinlegen? Nein, Mann, du musst auf den Beinen bleiben, hörst du?« Der Frackträger packte Malley unter den Schultern, zerrte ihn hoch in eine sitzende Haltung und lehnte ihn an die Aufzugwand. Malleys aufrechte Haltung sorgte dafür, dass die verbleibenden Luftbläschen aus seiner Lunge durch die geborstenen Pleurakapillaren direkt zum Herzen und von dort zur Koronararterie und zur Halsschlagader wanderten.
    »Danke«, flüsterte Malley. »Werd ich bald wieder gesund?«
    »Das werden wir gleich wissen«, sagte der Mann.
    Malley griff sich an den Kopf, denn ihm verschwamm alles vor den Augen. Die Venen an seinen Wangen traten blau hervor. »Was passiert mit mir?«
    »Also, ich würde sagen, du hast einen Schlaganfall, Seamus.«
    »Muss ich sterben?«
    »Ich will ganz ehrlich sein, Mann. Wenn ich dich jetzt gleich wieder runterfahren würde, könnte ich dich vielleicht noch retten.« Das stimmte. Rekompression war die einzige wirksame Gegenmaßnahme bei lebensbedrohlicher Dekompression. »Aber weißt du was?« Der Mann mit der schwarzen Fliege ließ sich Zeit und wischte sich erst einmal mit einem frischen Taschentuch das Blut von der Hand. »Meine Mutter war gar keine Irin.«
    Malley machte den Mund auf, als wollte er sprechen. Er starrte seinen Mörder an. Dann sackte sein Kopf nach hinten, seine Augen wurden glasig, und er bewegte sich nicht mehr. Seelenruhig öffnete der Mann im schwarzen Frack die Aufzugtür. Niemand war zu sehen. Er schlenderte zu seinem Wagen, holte eine Flasche Whiskey aus dem Kofferraum und kehrte zum Aufzug zurück, wo er die Flasche neben den zusammengesunkenen Toten legte. In wenigen Stunden

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