Morddeutung: Roman (German Edition)
würde man die Leiche des armen Malley finden und ein weiteres Opfer der Caisson-Krankheit beklagen. Ein guter Mensch, würden seine Freunde sagen, aber auch ein Narr, denn nur einem Narren konnte es einfallen, die Nacht an einem derart unwirtlichen Ort zu verbringen. Und was, so würden sich manche fragen, hatte ihn bloß mitten in der Nacht nach oben getrieben, und wie konnte er nur vergessen, an den vorgeschriebenen Punkten zu halten? War anscheinend nicht nur besoffen, sondern auch verwirrt. Niemand würde die Fußabdrücke aus rotem Lehm beachten, die der Mörder auf dem Pier hinterlassen hatte. Dieses Zeug zogen alle Senkkastenarbeiter hinter sich her, und die Umrisse der eleganten Schuhe des Mannes würden bald unter den Spuren von tausend Stiefeln verschwinden.
TEIL 3
KAPITEL ELF
Am Mittwochmorgen erwachte ich schon um sechs. Zwar hatte ich nicht von Nora Acton geträumt – zumindest nicht, soweit ich mich erinnern konnte -, doch als ich in meinem weiß getäfelten Hotelzimmer die Augen aufschlug, waren meine Gedanken bei ihr. Konnte sexuelles Begehren nach ihrem Vater wirklich die Ursache von Miss Actons Symptomen sein? In diese Richtung gingen auf jeden Fall Freuds Überlegungen. Ich wollte es eigentlich nicht glauben, der Gedanke war einfach abstoßend.
Ödipus war mir noch nie geheuer gewesen. Ich mochte weder das Drama noch die Gestalt noch Freuds nach ihm benannte Theorie. Das war der einzige Teil der Psychoanalyse, mit dem ich mich nie hatte anfreunden können. Dass wir ein unbewusstes geistiges Leben haben, dass wir ständig verbotene sexuelle Wünsche und die daraus resultierenden Aggressionen verdrängen, dass diese unterdrückten Wünsche ihren Niederschlag in unseren Träumen, unseren Versprechern, unseren Neurosen finden – von all diesen Dingen war ich zutiefst überzeugt. Aber dass Jungen mit ihren Müttern und Mädchen mit ihren Vätern Sex haben wollen, konnte ich nicht akzeptieren. Freud hätte meine Skepsis natürlich als reine »Abwehrhaltung« bezeichnet. Er hätte ins Feld geführt, dass ich die Ödipustheorie einfach nicht wahrhaben wollte . Zweifelsohne war das auch so. Aber eine Abwehrhaltung, was immer auch sonst dahinterstecken mag, beweist noch lange nicht die Wahrheit der abgelehnten Idee.
Aus diesem Grund kam ich immer wieder auf Hamlet und Freuds ebenso unwiderstehliche wie unausstehliche Lösung seines Rätsels zurück. Mit zwei Sätzen hatte Freud die – lange Zeit unumstößliche – Auffassung widerlegt, dass Hamlet, wie Jungs »Urgroßvater« Goethe es ausdrückte, ein vergeistigter Ästhet ist, der von seiner inneren Verfassung her nicht zu entschlossenem Handeln fähig ist. Freud hatte darauf hingewiesen, dass Hamlet zu wiederholten Malen in Aktion tritt. Er tötet Polonius. Er plant und realisiert das Spiel im Spiel und bewegt Claudius durch diese List dazu, seine Schuld zu verraten. Ohne mit der Wimper zu zucken, schickt er Rosenkranz und Güldenstern in den Tod. Anscheinend gibt es nur eins, was er nicht über sich bringt: sich an dem Schurken zu rächen, der seinen Vater getötet und seiner Mutter beigewohnt hat.
Und der Grund, der wahre Grund dafür ist laut Freud ganz einfach. In den Taten seines Onkels erkennt Hamlet die Erfüllung seiner eigenen geheimen Wünsche – seiner ödipalen Wünsche.
Claudius hat nur das getan, was Hamlet selbst tun wollte. »Der Abscheu, der ihn zur Rache drängen sollte«, um Freud zu zitieren, »ersetzt sich so bei ihm durch Selbstvorwürfe, durch Gewissensskrupel.« Dass Hamlet unter Gewissensbissen leidet, ist unleugbar. Immer wieder geißelt er sich in übertriebener, fast schon irrationaler Weise. Sogar an Selbstmord denkt er. So wird zumindest das bekannte Sein oder Nichtsein immer interpretiert. Hamlet überlegt also, ob er sich das Leben nehmen soll. Aber warum? Warum wird Hamlet von Schuldgefühlen und Selbstmordabsichten geplagt, wenn er an Rache für seinen Vater denkt? Dreihundert Jahre lang konnte niemand den berühmtesten Monolog der dramatischen Literatur erklären. Erst Freud ist dies gelungen.
Nach Freuds Argumentation weiß Hamlet unbewusst, dass er sich selbst gewünscht hat, seinen Vater zu töten und dessen Platz im Bett seiner Mutter einzunehmen, so wie es Claudius getan hat. Somit ist Claudius die Verkörperung von Hamlets eigenen geheimen Wünschen – er ist Hamlets Spiegelbild. Hamlets Gedankengang verläuft deshalb so direkt von Rache über Schuldgefühle zum Selbstmord, weil er sich in
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