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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Bridge verwendet wurde -, spürten schlagartig einen merkwürdigen Schwindel. Dem folgten zunächst eine Gelenksteifheit, dann Lähmung von Ellbogen und Knien und schließlich unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper. Die Ärzte bezeichneten die mysteriösen Beschwerden als Caisson-Krankheit, nach dem französischen Ausdruck für Senkkasten. Die Arbeiter sprachen von den »Bends«, weil sich die Betroffenen vor Schmerzen krümmten. Tausende von Arbeitern ruinierten auf diese Weise ihre Gesundheit, Hunderte erlitten bleibende Lähmungen, und viele starben, bevor man herausfand, dass eine langsame Rückkehr zur Oberfläche – bei der die Männer jeweils in bestimmten festgelegten Schachthöhen einige Zeit abwarten mussten – die Beschwerden verhinderte.
    Bis 1909 hatte die Wissenschaft der Dekompression beeindruckende Fortschritte gemacht. Man hatte Tabellen erstellt, die genau vorschrieben, wie lang ein Arbeiter Druck abbauen musste. Dies hing davon ab, wie lange er sich in dem Senkkasten aufgehalten hatte. Aus diesen Tabellen wusste der Mann, der am 31. August 1909 kurz vor Mitternacht Anstalten traf, den Senkkasten zu betreten, dass er fünfzehn Minuten unten bleiben konnte, ohne eine Dekompression zu benötigen. Er hatte keine Angst vor dem tiefen Wasser um ihn herum, denn er hatte die Fahrt schon viele Male gemacht. In einer Hinsicht war die bevorstehende Fahrt allerdings anders. Er war ganz allein.
    Er war mit einem seiner Automobile fast bis ganz an den Fluss gelangt, nachdem er es durch schweres Gerät, Holzplanken, windschiefe Wellblechschuppen, fünfzehn Meter dicke Stahlkabeltrommeln und Schutthaufen manövriert hatte. Die Baustelle lag völlig verlassen da. Die Arbeitstrupps der Frühschicht kamen erst um drei Uhr. Der nahezu fertiggestellte Brückenpfeiler warf im Mondlicht einen Schatten über seinen Wagen und machte ihn von der Straße aus fast unsichtbar. Das Dröhnen der Dampfmaschinen, die die Luft dreißig Meter tief in den Senkkasten pumpten, übertönte jedes andere Geräusch.
    Aus dem Heck seines Wagens wuchtete er nun einen großen schwarzen Schrankkoffer, den er über den Pier zum Eingang des Senkkastenschachts schleppte. Kaum ein anderer wäre dazu imstande gewesen, aber dieser Mann war stark, groß und athletisch. Er wusste, wie man sich einen schweren Schrankkoffer auf den Rücken lud. Freilich war es ein merkwürdiger Anblick, denn der Mann trug einen schwarzen Frack und Fliege.
    Er schloss den Aufzug auf und zerrte den Schrankkoffer mit hinein. Zwei blaue Flammen spendeten Licht. Der Aufzug begann seine Fahrt nach unten, und allmählich wurde das Dröhnen der Dampfmaschinen zu einem fernen Pochen. Die Dunkelheit wurde kühler. Ein starker, feuchter Geruch nach Erde und Salz lag in der Luft. Der Mann spürte den steigenden Druck in den Ohren. Mühelos bediente er die Luftschleuse, öffnete die Senkkastentür, zwängte den Schrankkoffer über eine Rampe – was schauerlich hallte – und stieg hinab zu den Holzplanken.
    Auch der Senkkasten wurde von Gaslampen mit blauen Flammen beleuchtet. Sie verbrannten reinen Sauerstoff und boten genügend Licht, ohne Rauch oder Geruch zu entwickeln. In ihrem flackernden Schein huschten katzenartige Schatten über den Boden und die Deckensparren. Nach einem kurzen Blick auf seine Uhr trat der Mann direkt zu einem der sogenannten Fenster, machte die Innenluke auf und stieß mit einem Ächzen den Schrankkoffer hinein. Nachdem er das Fenster wieder geschlossen hatte, betätigte er zwei Zugketten, die von der Wand hingen. Die erste öffnete die Außenluke des Fensters. Die zweite löste eine Drehung der Kammer aus, sodass ihr Inhalt – in diesem Fall ein schwerer schwarzer Schrankkoffer – in den Fluss stürzte. Mit einem zweiten Paar Ketten schloss er die Außenluke wieder und setzte ein Gebläse in Gang, das das Flusswasser aus der Kammer fegte. Das Fenster war nun bereit für den nächsten Benutzer.
    Er hatte es geschafft. Ein Blick auf die Uhr: Seit er den Senkkasten betreten hatte, waren erst fünf Minuten vergangen. Plötzlich hörte er ein Knarren.
    Von den verschiedenen Geräuschen, die man nachts in einem Raum hören kann, sind manche sofort erkennbar. Da wäre zum Beispiel das typische Trappeln eines kleinen Tiers. Oder das Schlagen einer Tür im Wind. Oder das Geräusch eines erwachsenen Menschen, der auf einem Holzboden sein Gewicht verlagert oder einen Schritt macht. Genau dieses Geräusch hatte der Mann soeben vernommen.
    Er wirbelte herum

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