Morddeutung: Roman (German Edition)
schockiert.
»Wegen Verbreitung obszöner Schriften«, fuhr Brill fort. »Bei diesen Schriften handelt es sich um zwei vor der Veröffentlichung stehende Artikel über die Heilung von Hysterie durch den psychoanalytischen Ansatz.«
»Um Prince müssen wir uns keine Sorgen machen«, warf Jones ein. »Er war doch mal Bürgermeister von Boston. Dem passiert bestimmt nichts.«
Nicht Morton Prince, sondern sein Vater war Bürgermeister von Boston gewesen. Aber Jones hatte mit solcher Überzeugung gesprochen, dass ich ihn nicht blamieren wollte. Stattdessen fragte ich: »Woher hat die Polizei gewusst, was Prince veröffentlichen wollte?«
»Das war verwunderlich auch für uns«, meinte Ferenczi.
»Diesem Sidis habe ich nie über den Weg getraut.« Brill sprach von einem Arzt im Herausgebergremium von Princes Fachzeitschrift. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es Boston ist. Dort oben verhaften sie sogar ein Hühnchenbrustsandwich, wenn es nicht anständig garniert ist. Die haben doch auch diese Australierin festgenommen – die Schwimmerin Kellerman -, weil ihr Badekostüm nicht bis über die Knie reichte.«
»Nun, ich fürchte, meine Neuigkeiten sind noch schlimmer, meine Herren«, bemerkte ich. »Und sie betreffen unmittelbar Dr. Freud. Die Vorlesungen nächste Woche sind in Gefahr. Dr. Freud wurde in Worcester persönlich angegriffen – ich meine, sein Name wurde angegriffen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich es bedaure, Ihnen diese Botschaft überbringen zu müssen.«
Ich fasste Präsident Halls Brief so ausführlich wie möglich zusammen, ohne die schäbigen Anwürfe gegen Freud genauer zu beschreiben. Der Vertreter einer äußerst reichen New Yorker Familie hatte sich gestern mit Hall getroffen und der Clark University eine Spende von »beträchtlichem Umfang«, so Hall, in Aussicht gestellt. Die Familie hatte die Absicht, der Universität eine Fünfzigbettenklinik für Nerven- und Geisteskrankheiten zu stiften, und war bereit, die kompletten Kosten für einen Neubau, modernste Ausstattung, Krankenschwestern, Personal und Gehälter in einer Größenordnung zu übernehmen, dass die besten Neurologen aus New York und Boston verpflichtet werden konnten.
»So was kostet eine halbe Million Dollar«, schätzte Brill.
»Wesentlich mehr«, entgegnete ich. »Die Clark University wäre mit einem Schlag die führende psychiatrische Institution des Landes. Damit würde sie sogar noch die McLean University überflügeln.«
»Was ist das für eine Familie?«
»Das verrät Hall nicht«, erwiderte ich auf Brills Frage.
»Aber ist das erlaubt?«, erkundigte sich Ferenczi. »Eine Privatfamilie, die finanziert eine staatliche Universität?«
»So was nennt sich hierzulande Philanthropie«, antwortete Brill. »Deswegen sind amerikanische Universitäten so reich. Bald werden sie die größten europäischen Universitäten überholen.«
»Quatsch«, stieß Jones hervor. »Niemals.«
»Fahren Sie fort, Younger«, bat Freud. »Bis jetzt finde ich das alles nicht so schlimm.«
»Die Familie hat ihre Schenkung an zwei Bedingungen geknüpft. Offensichtlich ist ein Mitglied der Familie ein bekannter Arzt mit ziemlich starren Auffassungen über Psychologie. Die erste Bedingung lautet, dass Psychoanalyse in der neuen Klinik nicht praktiziert und an der Universität in keiner Form gelehrt wird. Die zweite ist, dass Dr. Freuds Vorlesungen nächste Woche abgesagt werden. Andernfalls geht die Schenkung an eine andere Universität in New York.«
Rufe der Bestürzung und Entrüstung wurden laut. Nur Freud blieb gefasst. »Hat sich Hall dazu geäußert, was er tun will?«
»Ich fürchte, das war noch immer nicht alles«, erklärte ich. »Und auch noch nicht das Schlimmste. Präsident Hall hat ein Dossier über Dr. Freud erhalten.«
»Um Himmels willen, nun reden Sie schon«, drängte Brill. »Machen Sie es nicht so spannend.«
Ich erklärte, dass dieses Dossier Fälle dokumentierte, in denen sich Freud angeblich unzüchtiges und eigentlich sogar kriminelles Verhalten hatte zuschulden kommen lassen. Präsident Hall wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass die New Yorker Presse in Kürze über Freuds grobe Verfehlungen berichten werde. Nach der Lektüre dieses Dossiers werde sich Hall, da war sich die Familie sicher, nicht der Auffassung verschließen können, dass Freuds Auftritt zum Wohle der Universität abgesagt werden musste. »Präsident Hall hat die Akte nicht mitgeschickt«, ergänzte ich, »aber sein Brief fasst die
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