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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Anschuldigungen zusammen. Darf ich Ihnen den Brief geben, Dr. Freud? Präsident Hall hat mich ausdrücklich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass Sie seiner Meinung nach das Recht haben, über alles informiert zu werden, was gegen Sie vorgebracht wird.«
    »Wirklich sportlich von ihm«, knurrte Brill.
    Ich weiß nicht, warum – vielleicht, weil ich den Brief überbracht hatte? -, aber ich fühlte mich verantwortlich für die drohende Katastrophe. Es war, als hätte ich Freud persönlich an die Clark University eingeladen, nur um ihn zu vernichten. Dabei bezog sich meine Sorge durchaus nicht nur auf Freud. Wenn ich nicht wollte, dass der Ruf dieses Mannes ruiniert wurde, dann gab es dafür auch ganz eigennützige Gründe. Ein großer Teil meiner Überzeugungen, ja meines Lebens baute auf seine Autorität. Niemand von uns ist ein Heiliger, aber irgendwie hatte sich bei mir schon vor Jahren der Glaube festgesetzt, dass Freud anders war als die übrigen Menschen. Ich stellte mir vor, dass er (im Gegensatz zu mir) durch psychologische Selbsterkenntnis eine Ebene jenseits niedriger Versuchungen erreicht hatte. Ich hoffte inständig, die Anschuldigungen in Halls Brief würden sich als falsch herausstellen, wenngleich ich zugeben musste, dass sie durch ihre Detailliertheit sehr glaubhaft wirkten.
    »Es ist nicht nötig, dass ich den Brief allein lese«, erklärte Freud. »Erzählen Sie uns, was gegen mich vorgebracht wird. Ich habe keine Geheimnisse vor irgendjemandem hier.«
    Ich begann mit dem harmlosesten Vorwurf: »Sie sollen in wilder Ehe mit Ihrer Frau zusammenleben und sie vor aller Welt als Ihre angetraute Gattin hinstellen.«
    »Aber das ist nicht Freud«, rief Brill. »Das ist Jones.«
    »Ich muss doch sehr bitten.« Jones trat die Empörung aus allen Poren.
    Brill ließ sich nicht beirren. »Ach, kommen Sie, Jones. Es ist doch allgemein bekannt, dass Sie nicht mit Loë verheiratet sind.«
    »Freud nicht verheiratet.« Jones blickte über seine linke Schulter. »Wie absurd.«
    »Was noch?«, fragte Freud.
    »Dass Sie als Angestellter einer namhaften Klinik entlassen worden sind«, fuhr ich unsicher fort, »weil Sie ständig mit zwölf- und dreizehnjährigen Mädchen über sexuelle Fantasien gesprochen haben, obwohl diese Mädchen ausschließlich zur Behandlung körperlicher Beschwerden in der Klinik waren.«
    »Die reden doch schon wieder von Jones!«, ereiferte sich Brill.
    Jones hatte plötzlich ein eingehendes Interesse an der Architektur von Brills Mietshaus entwickelt.
    Die Litanei ging weiter. »Dass der Mann einer Ihrer Patientinnen Sie verklagt und ein anderer sogar auf Sie geschossen hat.«
    »Wieder Jones!«
    »Dass Sie zurzeit eine sexuelle Affäre mit Ihrem minderjährigen Dienstmädchen haben.«
    Brills Blick wanderte von Freud über mich und Ferenczi zu Jones, der gerade gen Himmel schaute, offensichtlich tief versunken in ein Studium des Flugverhaltens New Yorker Zugvögel. »Ernest?« Brill klang beinahe flehend. »Das kann doch nicht sein. Bitte sagen Sie, dass es nicht so ist.«
    Statt einer Antwort brachte Jones nur eine Reihe musikalischer Räusperlaute hervor.
    »Sie sind zum Kotzen, Ernest, wirklich zum Kotzen.«
    »Ist das jetzt alles?«, wollte Freud wissen.
    »Nein, Sir.« Mir war klar, dass die letzte Beschuldigung die schlimmste von allen war. »Noch eine Sache: dass Sie derzeit eine weitere sexuelle Liaison mit einer Ihrer Patientinnen unterhalten, einer neunzehnjährigen russischen Medizinstudentin. Über diese Affäre soll schon so viel geklatscht worden sein, heißt es, dass die Mutter des Mädchens Sie in einem Brief gebeten hat, ihre Tochter nicht zu ruinieren. Das Dossier enthält eine Kopie der Antwort, die Sie der Mutter geschrieben haben sollen. In diesem Brief verlangen Sie angeblich Geld von der Mutter als Gegenleistung dafür, dass Sie … dass Sie von einer Fortsetzung der sexuellen Beziehung mit der Patientin absehen.«
    Nachdem ich zu Ende gesprochen hatte, blieb es längere Zeit völlig still. Schließlich platzte Ferenczi der Kragen. »Aber um Himmels willen, das ist Jung!«
    »Sándor!«, fuhr ihn Freud an.
    »Das hat Jung geschrieben?« Brill starrte uns ungläubig an. »An die Mutter einer Patientin?«
    Ferenczi klatschte sich die Hand vor den Mund. »Uuh. Aber Sie dürfen nicht zulassen, dass sie das glauben von Ihnen, Sigmund. Sie werden es sagen die Zeitungen. Ich stelle mir schon vor Schlagzeilen.«
    Auch ich hatte solche Fantasien: ANSCHULDIGUNGEN GEGEN FREUD

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