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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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nichts als ihre Unterwäsche und einen silbernen Anhänger trug und um deren Hals eine fest zusammengezogene weiße Seidenkrawatte hing.
    Officer Reardon war nicht mehr in der Lage, Chong Sing im Auge zu behalten, weil ihm alles vor den Augen verschwamm. Als Chong das bemerkte, wich er zurück in die Ansammlung murmelnder Chinesen und entschlüpfte durch die Tür.

     
    Schweigend stapften wir die vier Treppen zu Brills Apartment hinauf. Bestimmt war ich nicht der Einzige, der sich den Kopf darüber zerbrach, wie wir auf die Schwierigkeiten in Worcester reagieren sollten. Wir hatten noch mehrere Stunden bis zu einem Dinner, zu dem uns Smith Jelliffe, Brills Verleger, eingeladen hatte. Im vierten Stock fiel Ferenczi ein merkwürdiger Geruch nach verbranntem Laub oder Papier auf, und er brachte eine wenig hilfreiche Vermutung zum Ausdruck: »Vielleicht wird in Küche eingeäschert tote Person?«
    Brill sperrte seine Wohnungstür auf. Der Anblick traf uns alle völlig unvorbereitet.
    In seiner Wohnung schneite es – oder es schien zumindest so. Feiner, weißer Staub wehte durch den Raum und wirbelte in dem Luftzug, der durch das Öffnen der Tür entstanden war. Der ganze Boden war mit dem Zeug bedeckt. Auf Brills Büchern, auf den Tischen, Fensterbänken und Stühlen hatte sich eine dünne Schicht gebildet. Überall roch es nach Rauch. Von Kopf bis Fuß mit einer Art Raureif bedeckt, stand Rose Brill mit Besen und Schaufel mitten im Zimmer und kehrte den Boden, so gut es ging.
    »Ich bin gerade gekommen«, rief sie. »Um Gottes willen, macht die Tür zu. Was ist das bloß?«
    Ich sammelte ein wenig von dem Zeug auf. »Das ist Asche.«
    »Haben Sie gekocht und vergessen?«, fragte Ferenczi Rose.
    »Nein, nichts.« Sie wischte sich die weißen Stäubchen aus den Augen.
    »Das muss jemand hier ausgeschüttet haben.« Wie in Trance wanderte Brill durch das Zimmer, die Hände ausgestreckt, mit denen er abwechselnd die Asche wegfächelte. Plötzlich wandte er sich zu Rose um. »Seht sie euch an. Seht sie euch bloß an!«
    »Was ist?«, fragte Freud.
    »Sie ist eine Salzsäule.«

     
    Als Captain Post mit Verstärkung vom Revier an der Forty-seventh Street anrückte, ordnete er – ohne Rücksicht auf Detective Littlemores Proteste – die Verhaftung von einem halben Dutzend Chinesen in der 782 Eighth Avenue an. Zu den Betroffenen gehörten auch der Besitzer des Restaurants und zwei Gäste, die dummerweise nachgeschaut hatten, was da oben Aufregendes los war. Die Tote wurde ins Leichenschauhaus überführt und eine Fahndung eingeleitet.
    Im ersten Moment hatte Littlemore geglaubt, die vermisste Leiche von Miss Riverford entdeckt zu haben, aber die Verwesung war hier zu weit fortgeschritten. Er war zwar kein Pathologe, aber er bezweifelte, dass sich die in der Nacht von Sonntag auf Montag ermordete Miss Riverford bis Mittwoch so stark zersetzt haben konnte. Mr. Hugel würde sicher Genaueres feststellen.
    Fürs Erste nahm sich der Detective die Briefe vor, die er im Schrankkoffer gefunden hatte. Es waren Liebesbriefe, insgesamt über dreißig. Alle begannen mit Liebster Leon und waren unterschrieben mit Elsie . Die Nachbarn waren sich nicht einig, was den Namen des Mieters anging. Die einen nannten ihn Leon Ling, die anderen legten sich auf William Leon fest. Er war Besitzer eines Restaurants in Chinatown, doch er war seit einem Monat nicht mehr gesehen worden. Er sprach hervorragend Englisch und trug nur amerikanische Anzüge.
    Littlemore inspizierte die Fotografien an den Wänden. Die Bewohner des Hauses bestätigten, dass der Mann auf den Bildern Leon war, aber sie wussten nicht oder wollten nicht angeben, wer die Frauen waren. Der Detective konstatierte, dass es sich bei den Frauen durchweg um Weiße handelte. Dann fiel ihm noch etwas auf.
    Er nahm eine der Fotografien von der Wand. Sie zeigte den lächelnden Leon, der zwischen zwei äußerst attraktiven jungen Frauen stand. Zuerst glaubte der Detective, dass er sich irrte. Als er schließlich zu der Überzeugung gelangt war, dass dem nicht so war, steckte er das Bild in die Westentasche. Nachdem er sich für den nächsten Tag mit Captain Post verabredet hatte, verließ er das Haus.
    Die Luft des frühen Abends war immer noch unangenehm heiß und schwül, aber im Vergleich zu der stickigen Kammer, der Littlemore gerade entronnen war, war sie wie Ambrosia. Um halb zehn stand er vor Bettys Wohnung. Sie war nicht zu Hause. Die Mutter versuchte verzweifelt, dem Detective

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