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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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klarzumachen, wo »Benedetta« war, aber da die Frau nur Italienisch sprach, und noch dazu sehr schnell, wurde er aus ihrem Wortschwall nicht schlau. Schließlich kam einer von Bettys kleinen Brüdern zur Tür und übersetzte: Betty war im Gefängnis.
    Mrs. Longobardi wusste nur – von einem netten jüdischen Mädchen, das extra vorbeigekommen war und es ihr erzählt hatte -, dass es Schwierigkeiten gegeben hatte in der Fabrik, in der Betty heute zu arbeiten angefangen hatte. Einige der Arbeiterinnen waren mitgenommen worden, auch Betty.
    »Mitgenommen?«, fragte Littlemore. »Wohin denn?«
    Die Mutter wusste es nicht.
    Littlemore rannte zur Untergrundstation an der Fifty-ninth Street. Während der ganzen Fahrt bis zur Stadtmitte blieb er stehen, weil er zum Hinsetzen viel zu aufgeregt war. Im Polizeihauptquartier erfuhr er schließlich, dass in einer großen Bekleidungsfabrik in Greenwich Village ein Streik ausgebrochen war, dass die Streikenden angefangen hatten, Fenster einzuwerfen, und dass die Polizei ungefähr zwanzig Rädelsführer verhaftet hatte, um die Lage in den Griff zu bekommen. Alle Ruhestörer saßen jetzt im Gefängnis. Die Männer wurden in den Tombs festgehalten, die Frauen am Jefferson Market.

KAPITEL VIERZEHN
     
    In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts schoss auf einem dreieckigen Grundstück an der Ecke Tenth Street und Sixth Avenue eine kuriose Fülle von Bauten im viktorianisch-gotischen Stil empor, die sich merkwürdig von dem ansonsten eher verrufenen Arbeiterviertel abhoben. Das neue, vielfarbige Gerichtsgebäude war ein Wirrwarr aus steil abfallenden Dächern mit Giebeln und Zinnen in allen nur erdenklichen Höhen und Lagen, und der Wachturm mündete in einer Spitze in sechzig Metern Höhe. Dem Gerichtsgebäude angegliedert war ein vierstöckiges Gefängnis im gleichen Stil. An dieses Gefängnis grenzte ein weiterer Prachtbau, in dem ein Markt untergebracht war. Diesem Arrangement lag die Auffassung zugrunde, dass Einrichtungen für Recht und Ordnung nicht von solchen des täglichen Lebens getrennt sein sollten. Das ganze Ensemble trug die Bezeichnung Jefferson Market.
    Tagsübers wurden im Gerichtsgebäude am Jefferson Market Kriminalfälle von großer Bedeutung verhandelt. Nachts tagte in denselben Räumlichkeiten das Schnellgericht, das sich mit Sittlichkeitsdelikten befasste. Daher war das Jefferson-Market-Gefängnis vorwiegend mit Prostituierten belegt, die auf ihre Aburteilung warteten. In diesem Gefängnis fand Littlemore am Mittwochabend die mitgenommene, aber ansonsten unversehrte Betty.
    Sie befand sich in einer großen, überfüllten Durchgangszelle im zweiten Stock. Die Zelle war nur durch Gitter vom Korridor getrennt. Auf der anderen Seite waren Fenster, die auf die Tenth Street gingen. In dem Raum standen ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Frauen in Grüppchen herum oder saßen auf langen, schmalen Bänken an der Wand.
    Die Zelle war in zwei Klassen von Gefangenen unterteilt. Etwa fünfzehn der jungen Frauen trugen ähnlich wie Betty Arbeitskleidung – schlichte, bis zu den Knöcheln reichende Röcke in dunklen Farben und weiße Blusen mit langen Ärmeln. Diese Gefangenen stammten aus der Hemdenfabrik, deren Angestellte Betty einen halben Tag lang gewesen war. Einige von ihnen waren nicht älter als dreizehn.
    Ihre Leidensgenossinnen waren ungefähr ein Dutzend Frauen in verschiedenen Altersstufen, deren Aufmachung und Schminke weitaus bunter war. Die meisten von ihnen redeten laut und völlig entspannt, da sie mit der Umgebung bereits vertraut waren. Eine von ihnen gebärdete sich besonders laut und beschwerte sich bei den Wachen darüber, dass eine Frau in ihren Umständen im Gefängnis festgehalten wurde. Littlemore erkannte sie sofort wieder; es war Mrs. Susan Merrill. Sie saß als Einzige auf einem Stuhl, den ihr die anderen respektvoll überlassen hatten. Um die Schultern trug sie eine weinrote Stola und auf den Armen ein Baby, das trotz des Lärms friedlich schlummerte.
    Mit seiner Dienstmarke gelangte Littlemore zwar ins Gefängnis, aber sie reichte nicht, um Betty zu befreien. Sie standen nur wenige Zentimeter voreinander, getrennt durch Gitterstäbe, die vom Boden bis zur Decke reichten.
    »Dein erster Arbeitstag«, flüsterte Littlemore, »und du streikst?«
    Sie hatte nicht gestreikt. Nach ihrer Ankunft am Morgen war Betty direkt hinauf in den achten Stock der Fabrik gegangen, wo hundert Mädchen vor Nähmaschinen saßen und arbeiteten. Dennoch waren

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