Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
Vom Netzwerk:
mindestens fünfzig Nähplätze unbesetzt. Der Grund dafür war, dass am Tag zuvor einhundertfünfzig Näherinnen als »Gewerkschaftssympathisantinnen« entlassen worden waren. Als Reaktion hatte die International Ladies Garment Workers Union noch am gleichen Abend zum Streik gegen Bettys Fabrik aufgerufen. Im Verlauf des Vormittags versammelte sich auf der Straße unten eine kleine Gruppe von Streikenden und Gewerkschaftern und rief zu den Arbeiterinnen in den Fabriketagen hinauf.
    »Sie haben uns als Streikbrecher beschimpft«, erklärte Betty. »Jetzt weiß ich auch, warum sie mich so schnell eingestellt haben – sie mussten die Gewerkschaftsfrauen ersetzen. Aber deswegen bin ich doch keine Streikbrecherin, Jimmy, oder?«
    »Wahrscheinlich nicht. Aber warum mussten die denn unbedingt streiken?«
    »Ach, du hast ja keine Ahnung. Erstens ist es da heiß wie in einem Backofen. Dann verlangen sie von den Mädels Miete – und zwar für alles: Spinde, Nähmaschinen, Nadeln, Hocker. Man kriegt nicht mal halb so viel, wie sie einem versprechen. Jimmy, eine Frau hat letzte Woche zweiundsiebzig Stunden geschuftet und gerade mal drei Dollar verdient. Drei Dollar! Das ist … das ist … wie viel ist das?«
    »Vier Cent die Stunde. Das ist wirklich schlecht.«
    »Und das ist noch nicht mal das Schlimmste. Die sperren alle Türen zu, damit die Mädels durcharbeiten; nicht mal auf die Toilette können sie.«
    »Meine Güte, Betty, du hättest einfach gehen sollen. Du musst doch nicht gleich mitstreiken, wenn die Leute Fenster einschmeißen und alles.«
    Betty schwankte zwischen Empörung und Verwirrung. »Aber ich hab ja nicht mitgestreikt, Jimmy.«
    »Und warum haben sie dich dann verhaftet?«
    »Weil ich gekündigt habe. Sie haben uns gesagt , dass wir ins Gefängnis kommen, wenn wir kündigen, aber ich hab ihnen nicht geglaubt. Und Fenster hat auch niemand eingeschmissen. Die Polizisten haben einfach nur Leute zusammengeschlagen.«
    »Das können keine Polizisten gewesen sein.«
    »O doch, das waren Polizisten.«
    »Mein Gott«, ächzte Littlemore. »Ich muss dich irgendwie da rausholen.« Er winkte einem Wachmann und erklärte ihm, dass Betty sein Mädchen war und überhaupt nicht bei dem Streik mitgemacht hatte; sie war nur aus Versehen im Knast gelandet. Bei den Worten mein Mädchen senkte Betty den Blick auf den Boden und lächelte verlegen.
    Der Wachmann, der ein Kumpel von Littlemore war, drückte sein Bedauern aus, aber ihm waren die Hände gebunden. »Ist nicht meine Schuld, Jimmy. Du musst mit Becker reden.«
    »Beck?« Littlemores Augen leuchteten auf. »Ist er hier?«
    Der Wachmann führte Littlemore zu einem Raum am Ende des Gangs, in dem fünf Männer unter einer flackernden Glühbirne tranken, rauchten und geräuschvoll Karten spielten. Einer von ihnen war Sergeant Charles Becker, ein quadratschädeliger Kerl mit einem Körper wie ein Hydrant und einer mächtigen Baritonstimme. Becker, der schon seit fünfzehn Jahren bei der Truppe war, arbeitete im verruchtesten Bezirk von Manhattan, im Tenderloin District, wo sich die glitzernden Kasinos und Bordelle der Stadt – zu denen auch das von Susan Merrill gehörte – mit den Hummerpalästen und Varietés vermischten. Beckers Anwesenheit war für Littlemore ein Glücksfall, weil er sechs Monate als Streifenpolizist in Beckers Abteilung gearbeitet hatte.
    »Hey, Beck«, rief Littlemore.
    »Littlemouse!«, dröhnte Becker, der gerade Karten austeilte. »Jungs, darf ich euch einen guten Kumpel vorstellen, der inzwischen Detective ist. Jimmy, das hier sind Gyp, Whitey, Lefty und Dago – an Dago erinnerst du dich doch noch, oder?«
    »Dago.« Littlemore zögerte.
    »Zwei, drei Jahre her«, erzählte Becker seinen Kumpanen, »da hat der Junge mir einen bewaffneten Raubüberfall aufgeklärt. Hat mir den Täter auf dem Tablett serviert, und der sitzt seitdem hinter schwedischen Gardinen. Irgendwann landen sie alle hinter schwedischen Gardinen.« Er lachte schallend. »Was machst du hier, Jimmy, schaust du dir die Bräute an?«
    Littlemore erklärte ihm alles, und Becker hörte ihm nickend zu, ohne den Blick vom Pokertisch zu nehmen. Mit dem eitlen Gegröle eines Mannes, der in der Zurschaustellung seiner Großherzigkeit schwelgt, befahl er den Wachleuten, das Mädchen des Detectives freizulassen. Littlemore bedankte sich ausgiebig bei seinem früheren Vorgesetzten und eilte zurück zur Zelle, um Betty abzuholen. Auf dem Weg hinaus steckte Littlemore noch einmal den Kopf

Weitere Kostenlose Bücher