Mordkommission
bei Hausbewohnern Informationen über das verstorbene Ehepaar zu erlangen, machte einmal mehr auf erschreckende
Art und Weise deutlich, wie anonym das Leben in den großen Wohnblocks von Trabantenstädten ablaufen kann: Keiner der Befragten
war in der Lage, Auskunft darüber zu geben, wie die alten Leute gelebt hatten, ob sie an Krankheiten litten, ob oder von wem
sie Besuch bekommen oder welche Freunde oder Bekannten sie hatten. Die Nachbarn auf derselben Etage wussten nur zu berichten,
dass die »alten Leute« immer nett grüßten, wenn man sich zufällig im Treppenhaus oder bei den Briefkästen traf. Es war wohl
das erste – zugleich aber auch das letzte – Mal, dass man von dem alten Ehepaar bewusst Notiz nahm, als die beiden Särge in
den Leichenwagen verladen wurden.
Das Motiv für die Tat waren tiefe Depressionen des Mannes, der offenbar große Ängste vor der Zukunft, vor altersbedingten
Gebrechen und dem Alleinsein hatte. Daraufhin wurden die weiteren Ermittlungen eingestellt. Was blieb, war die Betroffenheit
bei den Angehörigen, aber auch bei uns, darüber, dass Menschen am Ende eines langen Lebens voller Hoffnungen und Träume, Wünsche
und Ideale so verzweifeln und vereinsamen können, dass sie freiwillig auf – vielleicht viele – Jahre ihres Lebens verzichten
und stattdessen den Tod vorziehen.
|216| Die Todesfalle
Nach einem langen, schneereichen Winter war es das erste Wochenende, das ahnen ließ, dass es endlich doch Frühling werden
könnte. Die Müdigkeit, hervorgerufen durch tage- und nächtelange Ermittlungen aufgrund eines vorangegangenen Einsatzes, war
nahezu wieder verflogen. Ein laues Lüftchen, verbunden mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres, löste allenthalben
hektische Aktivitäten bei Hobbygärtnern, Autopflegern und Freizeitsportlern aus. Ich wollte die trügerische Ruhe während der
Bereitschaft zu einem Besuch in einem Elektronikmarkt nützen, um mir einen neuen Drucker zu kaufen. Gerade hatte ich es geschafft,
einen der dienstbaren Geister so in eine Ecke zu drängen, dass ihm nur noch die Flucht in ein Beratungsgespräch mit mir übrigzubleiben
schien, als mich ein Anruf ereilte.
In einem Vorort im Südosten Münchens war in einer Garage die Leiche einer Frau aufgefunden worden. Dem ersten Augenschein
nach war sie Opfer eines Tötungsdeliktes geworden. Ein Tatverdacht richtete sich gegen ihren Exfreund, von dem die Frau sich
erst vor wenigen Tagen getrennt hatte und der angeblich angekündigt hatte, sich zu rächen. In einer blutbesudelten Jacke neben
der Leiche fand man Schriftstücke mit seinem Namen. Er selbst war nirgends aufzufinden.
Der Tatort lag auf der anderen Seite der Stadt. Der Urlaubs- und Wochenendverkehr staute sich streckenweise fast bis zum Stillstand,
sodass es trotz der Sondersignale länger als eine halbe Stunde dauerte, bis ich am Tatort eintraf. Dort erwartete mich die
übliche makabre Betriebsamkeit, wie sie an den Schauplätzen von Kapitaldelikten vorherrscht. Schaulustige standen hinter den
Absperrbändern, fünf, sechs Streifenwagen, darunter auch der Kombi eines Diensthundeführers, parkten in der beschaulichen
Wohnstraße, zwei weitere Funkwagen standen quer auf der Fahrbahn und versperrten so die |217| Durchfahrt für Anwohner und Neugierige gleichermaßen. Der Außendienstleiter der zuständigen Polizeidirektion, kenntlich an
seinen drei silbernen Sternen auf seinen Schulterklappen, mir aber auch aus früheren Einsätzen bekannt, gab mir einen ersten
Überblick.
Ein langjähriger, guter Freund der Toten hatte sich Sorgen gemacht, nachdem er mehrfach vergeblich versucht hatte, Sandra
G. telefonisch zu erreichen. Er wusste von der Trennung und von Rachedrohungen des Exfreundes. Mit einem gemeinsamen Bekannten
fuhr er zu ihrer Wohnung, sie klingelten und klopften an der Tür. Aber alles blieb ruhig. Bei ihrer Suche entdeckten die beiden
Männer durch ein Fenster große Blutspritzer an dem in der Garage stehenden Wagen der Frau und alarmierten die Polizei. Ein
Streifenbeamter stieg durch das Garagenfenster ein und fand die Leiche der Frau. Sie lag ausgestreckt in einer großen Blutlache
neben ihrem Fahrzeug.
Eine Streife war gerade im Westen der Stadt unterwegs, um bei den Eltern des Tatverdächtigen nach seinem Aufenthalt zu forschen.
Die Beamten hatten bereits in Erfahrung bringen können, dass der Tatverdächtige, Michael H., ein Handy bei sich hatte. Sofern
er
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