Mordkommission
ihre Art, einfach wegzulaufen. Sie würde ihrem Freund die Situation
erklären und sich mit Anstand von ihm trennen. Obwohl dem Vater die Vorstellung von einer Aussprache zwischen seiner Tochter
und ihrem Freund Unbehagen bereitete, willigte er schließlich in die Wünsche seiner Tochter ein. Wie hätte er auch ahnen können,
was sich wenige Stunden später ereignete.
Kurz nach Mitternacht war der Streit wohl so weit eskaliert, dass sich Ulla M. im Bad einsperrte und eine Freundin anrief.
Sie bat sie darum, sie abzuholen, weil ihr Freund so aggressiv sei. Doch noch bevor die Angerufene sich in der eisigen Nacht
auf den Weg machen konnte, rief Ulla M. erneut |211| an und teilte mit, dass sich ihr Freund jetzt beruhigt habe und sie nicht mehr kommen müsse. Ulla M. kündigte ihrer Freundin
einen Besuch für den nächsten Vormittag an, dann werde sie ihr alles erzählen. Damit legte sie auf. Fast zeitgleich hörten
Wohnungsnachbarn einen lauten Ruf aus der Wohnung; eine Frau schrie »Nein!«. Unmittelbar darauf waren polternde Laute zu hören.
Danach herrschte Stille. Ein Nachbar betrat lauschend das Treppenhaus. Als es minutenlang still blieb, beruhigte er sich.
Wahrscheinlich war nur ein Gegenstand umgefallen. Was hätte der Lärm denn auch sonst für einen Grund haben sollen. Man würde
am nächsten Tag mal bei dem jungen Pärchen, das die Wohnung unter dem Dach bewohnte, nachfragen, was denn zu Bruch gegangen
war. Doch auch wenn die Nachbarn anders reagiert hätten, wäre der jungen Frau nicht mehr zu helfen gewesen. Wie die Obduktion
später ergab, hatte wohl schon der erste Stich ins Herz binnen Sekunden zum Tod geführt.
Als die Eltern bis zum späten Nachmittag des folgenden Tages keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter herstellen konnten, riefen
sie besorgt bei den Wohnungsnachbarn an und baten sie, nach dem Rechten zu sehen. Da beide Fahrzeuge des Paares vor dem Haus
standen und in der Wohnung Licht brannte, verständigten die Nachbarn – nun doch besorgt eingedenk der nächtlichen Vorkommnisse
– die Polizei. Nachdem die Streife der zuständigen Inspektion aufgrund eines anderen Einsatzes zunächst nicht abkömmlich war,
rief der Nachbar schließlich die freiwillige Feuerwehr, die mit einem Arzt anrückte und die Tür öffnete. Dabei stießen sie
auf die beiden Toten.
Während unserer Ermittlungen erfuhr ich, dass die Freundin, mit der Ulla M. unmittelbar vor ihrem Tod telefoniert hatte, vor
dem Anwesen eingetroffen war. Tief erschüttert nahm sie die Nachricht vom Tod ihrer Freundin entgegen. Ullas Eltern, so wusste
sie zu berichten, hatten sich äußerst besorgt gegen 16 Uhr auf den Weg gemacht. In Anbetracht der winterlichen Straßenverhältnisse würden sie |212| frühestens gegen 22 Uhr – wahrscheinlich aber erst gegen Mitternacht – bei der Wohnung ihrer Tochter eintreffen. Die Eltern während der Fahrt
anzurufen, um sie über den Tod der Tochter zu informieren, verbot sich von selbst. Über die Einsatzzentrale forderte ich einen
Angehörigen des Kriseninterventionsteams an. Der geschulte Rettungssanitäter traf gegen 20.30 Uhr bei uns ein.
Um zu verhindern, dass die ahnungslosen Eltern bei ihrer Ankunft als Erstes den Leichenwagen sehen würden, drängte ich darauf,
die Leichen so rasch wie möglich abzutransportieren. Je näher der Zeitpunkt kam, zu dem die Eltern von Ulla M. vermutlich
eintreffen würden, umso mehr Kollegen verließen den Tatort. Die Beamten des Erkennungsdienstes packten ihre Ausrüstung ein,
sie wollten ihre Arbeit bei Tageslicht fortsetzen. Die Wohnung war beschlagnahmt und versiegelt, die vordringlichsten Arbeiten
seien allesamt erledigt. Damit sah auch der Staatsanwalt kein zwingendes Erfordernis mehr, länger zu bleiben. Die Beamten
des KDD und die Erstzugriffsbeamten besannen sich darauf, dass sie ihre Ausrückberichte für uns erstellen mussten, und verabschiedeten
sich rasch. Nun waren wir also nur noch zu dritt: mein Kollege, der Rettungssanitäter und ich. Die Freundin der Ermordeten
hatten wir in die Obhut von Nachbarn gegeben.
Fröstelnd standen wir in der klirrenden Kälte vor dem Haus. Der Wind ließ immer wieder Schneewirbel vor den wenigen Straßenlampen
tanzen, die die Zufahrt zu der Ortschaft beleuchteten. Von dort würde über kurz oder lang ein Scheinwerferpaar aus dem spärlicher
werdenden Verkehr auf der Bundesstraße ausscheren und eilig Kurs auf das schmucke Mehrfamilienhaus
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