Mordlast
großen Fenstern, oder es lag daran, dass er schlecht geschlafen hatte?
Wahrscheinlich ist es eine Mischung von allem, dachte er.
»Der Schwerbelastungskörper bringt übrigens mit seinem Gewicht von 12.650Tonnen einen Bodendruck von eins Komma sechsundzwanzig Meganewton in achtzehn Komma zwei Meter Tiefe.«
Colbert schwieg einen Moment.
Davídsson brauchte die Zeit, um sich die gewaltigen Dimensionen bewusst zu machen. Seine Vorstellungskraft reichte dazu nicht aus.
»Hergestellt wurde er von der Firma Dyckerhoff & Widmann im Auftrag der Degebo. Das ist die Deutsche Gesellschaft für Bodenmechanik, die wiederum 1928gegründet wurde, um die unterschiedlichen Bodenarten zu untersuchen und dabei die Belastbarkeit und die mögliche Standsicherheit von Bauwerken wissenschaftlich beurteilen zu können.«
»Gibt es diese Degebo heute noch?«
»Ja und nein.« Colbert legte seine Fingerspitzen aneinander, als wollte er damit andeuten, dass seine Antwort eine besondere Sensibilität erforderte. »Sie existiert nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form. Wie auch? Sie wurde ja vom damaligen Reichsverkehrsministerium, der Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft und dem Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gegründet. Die gibt es heute natürlich alle nicht mehr. Durch den Krieg und hinterher durch die Teilung Deutschlands in die Besatzungszonen gab es eine ziemlich bewegte Geschichte für die Degebo, die damit endet, dass sie heute ein Institut der Technischen Universität Berlin ist.«
Davídsson sah aus dem Fenster. Die junge Frau war längst weg. Jetzt marschierte eine Schulklasse in Zweiergruppen auf dem Trottoir vorbei. Die Kinder hatten gelbe Kappen auf, die man schon von Weitem sehen konnte. Es war eine Grundschulklasse, die sich mit ihrem lauten Durcheinander schon lange angekündigt hatte, bevor man sie überhaupt sehen konnte.
»Haben Sie dort zu jemandem Kontakt?«
Colbert war seinen Blicken gefolgt.
Vielleicht dachte er ebenfalls an das Mädchen, dem er hinterhergesehen hatte.
»Naja, Kontakt ist vielleicht zu viel gesagt.« Er sah jetzt wieder zu Ólafur Davídsson. »Ich habe bei meinen Recherchen ein paarmal in deren Archiven gearbeitet, aber faktisch ist das Institut so gut wie verwaist. Es gibt schon seit Jahren nur noch einen kommissarischen Leiter mit einer Handvoll Mitarbeiter, die immer weniger werden. Der letzte große Auftrag kam von der Deutschen Bahn, als die ihren Hauptbahnhof am Spreebogen geplant haben, wozu auch die Planung des Nord-Süd-Tunnels gehörte. Davor und danach gab es so gut wie keine Aufträge mehr.«
»Ich verstehe.« Davídsson richtete sich in dem Bürostuhl auf und rieb sich ein paarmal über die Schläfen. Die liebliche Müdigkeit hatte ihn immer mehr umschmeichelt. Er musste versuchen, seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.
Davídsson saß in seinem Büro, das wesentlich schöner war als das von Colbert, aber dafür erheblich kleiner. Er saß mit dem Rücken zum Fenster. Eine andere Möglichkeit, den Schreibtisch in dem schmalen Raum unterzubringen, gab es nicht. Er hätte ihn höchstens drehen können, aber dann hätte er die ganze Zeit auf die leere Wand gestarrt. So konnte er wenigstens sehen, wenn jemand auf dem Flur vorbeilief.
Manchmal war das sogar interessant. Der Chef der Personenschützer neigte zu cholerischen Anfällen. Er hatte beobachtet, wie seine Kollegen damit umgingen – die einen besser, die anderen weniger gut.
Einmal hätte er beinahe einschreiten müssen.
Der Chef der Sicherungsgruppe hatte damals über den ganzen Flur gebrüllt, weil sich ein Minister bei ihm darüber beschwert hatte, dass einer seiner Leute zu spät zur Arbeit erschienen war: Der Minister hatte deshalb einen Flug verpasst, aber es war zum Glück nur ein privater Besuch. Er hatte seinerzeit die übelsten Schimpfwörter gebraucht, aber der Mitarbeiter konnte nichts für die Verspätung. Sein Vater war mit einem schweren Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er war noch am gleichen Tag gestorben, und Davídssons Kollege hatte seine Waffe gezogen und den Vorgesetzten damit bedroht. Bevor Davídsson eingreifen musste, war die Situation aber schon wieder geklärt und der Chef hatte sich bei seinem Mitarbeiter entschuldigt. Personensicherung war ein hartes Geschäft und ein undankbares obendrein.
Davídsson tippte ein paar Informationen in die Datenbank und rief seine Mails ab. Engbers hatte ihm mit ein paar knappen Worten
Weitere Kostenlose Bücher