Mordlast
sich um mehrere Bauwerke. Alte U-Bahn-Tunnel, Bunkeranlagen und, und, und. Wollen Sie lieber Fragen stellen oder soll ich einfach mal erzählen?«
»Erzählen Sie ruhig erst einmal.« Davídsson lehnte sich in dem Schreibtischstuhl zurück, der sofort nach hinten kippte und damit in eine verführerische Schlafposition fiel.
»Der Verein ist jetzt fünfzig Jahre alt. Im September werden es genau fünfzig. Der Schwerbelastungskörper ist für den Verein eigentlich nicht so wichtig gewesen. Es gibt interessantere Objekte, vor allem für Besucher. Sie werden ja wahrscheinlich schon einmal in dem Bauwerk gewesen sein, oder?«
Davídsson nickte und Colbert nahm einen Schluck Kaffee.
»Die meisten Besucher waren bisher enttäuscht. Das Grundstück ist verwildert und es gibt eigentlich nichts zu sehen, wenn man nicht gerade ein starkes geschichtliches Interesse hat oder etwas über die Messverfahren im Dritten Reich wissen möchte.« Er folgte einer vorbeilaufenden Frau mit seinen Blicken. Davídsson hatte keinen Ehering an seinen Händen gesehen. Die Passantin war mindestens zwanzig Jahre jünger als Colbert.
»Wir haben aber trotzdem immer wieder Besuchergruppen, die ein besonderes Interesse am Pilz haben.«
»Wann war die letzte Besuchergruppe dort?«
Colbert zuckte mit den Schultern, bevor er sich seinem Notebook zuwandte.
»Das war vor zwei Wochen, am Freitag«, sagte er nach einem kurzen Moment. »Normalerweise macht das meine Sekretärin, aber die hat sich heute Morgen krankgemeldet.«
»Und wie kam der Verein zu diesem Objekt? Hat die Stadt Sie damit beauftragt oder darum gebeten?«
»Nein. Wir sind völlig unabhängig von der Stadt. Das heißt, das stimmt nicht ganz. Wir sind natürlich darauf angewiesen, dass wir Führungen in diesen denkmalgeschützten Objekten machen dürfen. Im Gegenzug verwenden wir aber einen Teil unserer Einnahmen zur Instandsetzung und Denkmalpflege. So ist am Ende allen geholfen.«
Davídsson wäre beinahe mit einem Heizlüfter unter dem Schreibtisch zusammengestoßen, als er ein Bein über das andere schlagen wollte. Er stellte sich eine frierende Sekretärin vor, die jetzt mit einer Erkältung im Bett lag. Der einsame Heizkörper in der Ecke des riesigen Raumes reichte offenbar nicht aus.
»Und wie kam Ihr Verein dann zum Schwerbelastungskörper?« Davídsson stellte die Frage noch einmal.
»Berlin war bis 1995 ein weißer Fleck auf der Landkarte, was den Denkmalschutz anbelangt. Unser Verein hat sich darum gekümmert, dass sich das ändert, und damit war die Stadt in einer Zwickmühle gefangen, die von uns natürlich nicht beabsichtigt worden war. Die neu eingerichtete Denkmalschutzbehörde musste sich natürlich auch um die geschützten Objekte der Stadt kümmern. Der Verein hat sich damals angeboten, das zu übernehmen, und im Gegenzug durften wir seither die Führungen völlig selbstständig organisieren. Rudolf Werner hat mich eines Tages auf den Schwerbelastungskörper aufmerksam gemacht. Ich sollte für die Stadt einen Vortrag über das E42 in Rom halten, und dabei sind wir beiläufig auf den Schwerbelastungskörper zu sprechen gekommen, um den sich bisher niemand aus dem Verein gekümmert hatte.«
»E42?«
»Ja, eigentlich Esposizione Universale 1942. Das ist ein modernes Stadtviertel im Süden von Rom, das Mussolini für die Weltausstellung 1942 bauen ließ.«
»Besteht da eine Verbindung zwischen Rom und Berlin?«
Colbert stand auf und schaltete die Neonröhren über ihnen an. Jetzt wirkte der Raum noch trostloser als zuvor.
»Die Architektur des E42 und die Planungen von Germania stammten aus derselben Zeit.«
»Woher rührt Ihr Interesse an dieser Zeit?«, fragte Davídsson, der hoffte, dass diese Frage richtig bei seinem Gegenüber ankam.
»Ich habe Architektur studiert und außerdem bin ich Historiker. Der Berliner Denkmalverein verbindet sozusagen meine beiden Interessengebiete.« Er lächelte.
»Natürlich. Ich finde das interessant. Wie viele Mitglieder hat der Verein eigentlich?«
»Um die hundert aktive Mitglieder, und dann gibt es noch eine beträchtliche Anzahl von Nichtmitgliedern, die uns durch Spenden unterstützen.«
Ólafur Davídsson spürte auf einmal wieder die schleichende Müdigkeit in sich aufsteigen. Vielleicht lag das ja an dem bequemen Bürostuhl, in dem er immer wieder leicht hin und her wippen konnte und der sich danach immer wieder in diese Schlafstellung zurückbewegte, oder es war das schummrige Licht draußen vor den
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