Mordlast
dass es nie wieder an diesen Ort der Geborgenheit zurückkommen würde.
Das Leben war in so einer Wohnung noch überall gegenwärtig. Mal war es eine aufgeschlagene Zeitung, ein benutztes Glas in der Spüle oder ein nasses Handtuch im Bad, das daran erinnerte, dass hier bis vor Kurzem ein Mensch gelebt hatte.
Man kann das Leben in der Wohnung eines Toten spüren, dachte er.
Diese Wohnung war klein, eher ein Studio mit einem schmalen Schlafzimmer, in das nur ein Doppelbett hineinpasste. Die Nachttische mussten am Fußende stehen, an den Wänden war nur noch ein schmaler Weg zum Bett geblieben.
Gegenüber befand sich ein Wohnzimmer mit einer offenen Küche.
Davídsson blieb plötzlich mitten im Raum stehen. Er war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er in der richtigen Wohnung gelandet war.
Die Möbel wirkten alt, sehr alt. Sie passten überhaupt nicht zu einem vierzigjährigen Mann, eher zu einer alten Frau, die schon immer in derselben Wohnung gelebt hatte und nun kurz vor ihrem Lebensende stand.
Es sei denn, Bernd Propstmeyer hatte in einem Museum gelebt.
Davídsson trat noch einmal auf den Hausflur, aber das kleine silberne Türschild sagte ihm, dass er in der richtigen Wohnung war. Er schloss die Tür wieder und ging durch den rechteckigen Flur zurück ins Wohnzimmer. Hier erinnerte tatsächlich alles an eine andere Zeit.
Die ganze Wohnungseinrichtung war im Art-déco-Stil gehalten. Es gab die typischen, unbequemen Sessel mit den hohen Armlehnen und der ausladenden Sitzfläche, einen geblümten Teppich, einen dreibeinigen Tisch mit einer glänzenden schwarzen Resopaloberfläche, Schals und schlichte Gardinen und sogar eine Fernsehtruhe mit eingebautem Volksempfänger.
Damit hatte er nicht gerechnet. Davídsson nahm ein dickes, mit bunten Verzierungen besticktes Kissen von einem der beiden Sessel, bevor er sich setzte und versuchte, sich das Leben in dieser Wohnung vorzustellen.
Waren das alles Nachbauten oder Originale? Wer lebt freiwillig in so einem alten Plunder, dachte Ólafur Davídsson. Selbst die Tapeten an den Wänden haben die typischen Muster und Farben der guten alten Zeit.
Er beobachtete, wie die winzigen Staubflocken in der Luft tanzten, die er aufgewirbelt hatte, als er sich in den Sessel fallen gelassen hatte. Alles Originale, dachte er jetzt. Vielleicht hatte das Opfer deshalb diesen schwarzen Kutschermantel an. Offenbar liebte Bernd Propstmeyer die Zeit, in der man so herumgelaufen war, oder er war ein Freak oder beides.
Vielleicht war hier ja ein Motiv zu suchen. Jedenfalls glaubte er nicht, dass der Kupferdiebstahl eines war. Wahrscheinlich hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Vielleicht war es einfach nur Zufall, oder aber der Diebstahl war viel früher am Tag geschehen, oder auch später und die Diebe konnten nicht zur Polizei gehen, ohne sich selbst zu belasten.
Manchmal müsste es Straffreiheit geben, wenn es der Aufklärung eines größeren Verbrechens dient, ein kleineres Vergehen zu beichten, dachte er jetzt.
Dieser ungewöhnliche Fundort passte schon besser ins Bild. Der Schwerbelastungskörper mochte aus der gleichen Zeit stammen wie diese Wohnungseinrichtung.
Er musste über beides mehr erfahren. Nur so konnte er ein ordentliches Täterprofil erstellen und nur so würden sie den Täter überführen können, wenn sie einen Verdächtigen hätten.
Der Weg dahin war vermutlich noch weit. Bei einer guten Zusammenarbeit mit Engbers vielleicht etwas weniger weit als ohne eine Partnerschaft.
Ólafur Davídsson ging es an diesem Morgen nicht besonders gut. Er hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Jetzt hatte er ein unangenehmes Ziehen in der Schulter und sein rechter Fuß tat weh.
Er stand an der großen Fensterfront im Wohnzimmer und sah hinunter auf das große leere Grundstück vor seinem Haus, wo in der Nacht eine Party gefeiert worden war, die ihn nicht hatte schlafen lassen. Im Hintergrund spielten die Rolling Stones ›Ruby Tuesday‹. Er massierte seinen Nacken und dachte über den Fall nach, wie er es beinahe die ganze Nacht getan hatte.
Irgendetwas übersahen sie, übersah er.
Das Gefühl hatte er beinahe bei jedem Fall irgendwann einmal gehabt, aber noch nie so früh.
Er hatte den Obduktionsbericht gelesen, aber auch der hatte nichts Neues ergeben. Das Opfer war stranguliert worden, ein Selbstmord war nun hundertprozentig auszuschließen, weil der Bademantelgürtel mehrere Abdrücke auf Bernd Propstmeyers Hals hinterlassen hatte. Der Täter
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