Mordlicht
gekommen war. Dort
stand immer noch Christophs eigener Pkw, mit dem er die Fahrt fortsetzte.
Von unterwegs rief
Christoph Anna Bergmann an.
»Was gibt’s?«,
stöhnte die Arzthelferin. »Das Wartezimmer ist voll, und das Telefon steht
nicht still. Ganz Husum scheint erkältet zu sein.«
»Dann sollten wir
uns heute nicht mehr sehen.«
Sie atmete hörbar
durch. »Doch, aber es wird eher acht Uhr werden. Du kannst ja ein paar Sachen
zum Abendessen einkaufen. Denk dir was aus. Und – noch etwas. Schalt bitte dein
Handy ab, wenn du bei mir bist.«
Er versprach es und
fuhr weiter Richtung Norden.
*
Der Oktober besaß in Husum besonderen klimatischen
Reiz. Die See war durch den Sommer erwärmt und wirkte so als Wärmespeicher für
die Luft. Ein mäßig wehender Wind sorgte für den Luftaustausch und ließ die
goldene Pracht der Laubbäume sanft rascheln. Auch der Nieselregen hatte
aufgehört, und in der Abenddämmerung zeigte sich stellenweise wieder das
verblassende Blau des scheidenden Tages.
Rieke Christensen liebte den Herbst. Ihren Freundinnen
erzählte sie, dass sie eine besonders intensive Beziehung zu dieser Jahreszeit
entwickelt hätte, weil sie selbst auch den Herbst des Lebens erreicht hatte.
Sie empfand das Älterwerden nicht als Last, obwohl manche Dinge des Alltags
beschwerlicher geworden waren. Dazu gehörte das Einkaufen.
Heute schleppte sie sich mit zwei Tragetaschen ab, in
denen sich nichts weiter als jene kleinen Sachen befanden, die in einem
Einpersonenhaushalt benötigt wurden.
Jetzt, kurz vor sechs Uhr abends, war der Tag in die lange Dämmerung eingemündet. In nicht ganz zwei Wochen, wenn die Sommerzeit
endete, würde es um diese Zeit bereits dunkel sein.
Sie ging langsam die Nordbahnhofstraße entlang, durch
die heute der Verkehr floss, den man aus dem Stadtzentrum verbannt hatte. Es
waren nur noch wenige Schritte, dann würde sie in den Totengang abbiegen, einen
Fußweg, der zum Altstadtfriedhof führt. Sie mied die für sie schwer begehbaren
Holpersteine und hielt sich in der Mitte des Weges auf dem roten Pflaster.
In den geklinkerten Neubauten zur linken Hand sah sie,
dass hinter mehreren Fenstern bereits Licht brannte. Der kleine Sandplatz mit
den wenigen Spielgeräten war um diese Zeit verwaist. Jetzt war es nicht mehr
weit bis zu ihrer Wohnung. Die Rückseite des Hauses in der Gurlittstraße konnte
sie schon erkennen. Am Ende des Totengangs begann die Straße »Hinter der
Neustadt«, die keine Gehwege, aber ein fürchterliches Kopfsteinpflaster
aufwies. Deshalb wich sie auf den parallel zur Straße liegenden Friedhof aus
und ging hinter der kleinen Felssteinmauer, die das Gelände zur Straße hin
trennte, auf dem ebenen Weg zwischen den Grabreihen entlang. Furcht hatte sie
keine. Zum einen benutzte sie schon seit ewigen Zeiten diesen Weg, zum anderen
war Husum keine Stadt, in der man sich fürchten musste.
Sie blieb kurz stehen, holte tief Luft und wechselte
die Seiten, um nun die ungleich schwerere Tasche mit der rechten Hand zu
tragen. In dem Augenblick, als sie sich wieder aufrichtete, erhielt sie von
hinten einen Stoß, stolperte und fiel vornüber auf die Betonplatten des
Fußweges. Der Schreck nahm ihr den Atem, bevor eine Welle des Schmerzes ihren
ganzen Körper durchfuhr. Nur im Unterbewusstsein registrierte sie, wie eine
Gestalt von hinten nach ihrer Handtasche griff, die sie sich über die Schulter
gehängt hatte. Der Unbekannte zerrte an der Tasche, riss dabei brutal ihren Arm
nach hinten und entfernte sich dann auf leisen Sohlen in die Richtung, aus der
Rieke Christensen gekommen war.
*
Von den fünf Werktagen der Woche hatte der Freitag für
viele Menschen eine herausragende Stellung. Es war nicht nur das bevorstehende
Wochenende oder der für viele Berufstätige nur halbe Arbeitstag, nein, es war
etwas anderes, Unbestimmbares.
Christoph hatte seinen Wagen hinter dem Polizeigebäude
geparkt und erklomm im lichtdurchfluteten Treppenhaus die Stufen nach oben, als
er hinter sich Frau Fehlings Stimme hörte.
»Moin, Herr Johannes. Schön, dass ich Sie sehe. Der
Chef wartet dringend auf Sie.«
Christoph machte auf dem Absatz kehrt und folgte der
Sekretärin des Polizeidirektors. Sie meldete ihn an und zeigte dann auf die
Tür.
»Bitte.«
Grothe saß wie immer an seinem Schreibtisch und paffte
an seiner Zigarre. Sein Zimmer wies viel Ähnlichkeit mit den Morgennebeln auf,
die um diese Jahreszeit über den feuchten Wiesen in den Kögen und Marschen
hingen. Nur der
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