Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mordlicht

Mordlicht

Titel: Mordlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Nygaard
Vom Netzwerk:
probiert. Da stand der junge Mann noch etwas
weiter zurück. Doch mit jedem Schritt, mit dem wir uns näherten, wich er weiter
zum Rand hin. Soweit wir uns bei diesem Wind verständigen konnten, lehnt er
jede Hilfe ab. Auch über seine Beweggründe haben wir nichts in Erfahrung
bringen können.«
    Große Jäger schob sich in den Vordergrund. »Lasst mich
mit dem Jungen sprechen.«
    Der oftmals ungehobelt wirkende Mann hatte in der
Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass er in kritischen Situationen die
richtige Tonlage finden kann. Christoph wollte schon einen Schritt zur Seite
treten, bevor er sich doch besann und selbst das Gespräch mit Auhagen suchen
wollte. In den großen Metropolen stand für solche Fälle ein psychologisch
geschulter Beratungsstab zur Verfügung, aber in dieser dünn besiedelten Region
waren sie auf sich allein gestellt.
    Vorsichtig machte Christoph einen halben Schritt auf
den jungen Mann zu, der sich halb umdrehte und seinerseits weiter dem Rand
näherte. Er rief Christoph etwas zu. Die Worte gingen aber im Wind unter. Der
Abstand zu Auhagen betrug etwa acht Meter, während dieser nicht mehr als einen
halben Meter vom Gebäuderand entfernt stand.
    Christoph formte seine Hände zu einem Trichter. »Auhagen!
Das hat doch keinen Sinn.« Doch der junge Mann zeigte keine Reaktion.
    Christoph zog seine Jacke aus. Er hatte vor, sich
bedächtig zu nähern. Dabei war das auftragende Kleidungsstück nur hinderlich.
Nur im Pullover bekleidet, merkte er, wie kalt der Wind hier oben wehte. Eine
zusätzliche Gefährdung entstand dadurch, dass er nicht gleichmäßig blies,
sondern in Böen. Stemmte man sich gegen den Wind und ließ dieser urplötzlich
nach, war es schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Das Austarieren der Balance
war für einen ausgewachsenen Mann sicher kein unlösbares Problem, am Rande
eines Hochhauses gestaltete sich die Situation aber schwieriger.
    Vorsichtig machte Christoph einen kleinen Schritt auf
den jungen Mann zu. Der hob wie zur Abwehr den Arm, als wolle er Christoph
Einhalt gebieten. Der hob ebenfalls beide Arme als Zeichen der friedlichen
Absicht. Er hätte diese Geste nicht begründen können. Es war mehr ein
intuitives Verhalten. Christoph verharrte eine Weile in der Position. Dann
setzte er im Zeitlupentempo den nächsten Fuß vor. Diesmal erfolgte keine
Reaktion von Auhagen. Der junge Mann starrte in die Tiefe, auf die Straße und
die Kreuzung hinab, auf die Schaulustigen, die von den zuckenden Blaulichtern
der Einsatzfahrzeuge beleuchtet wurden. Auf halber Höhe zum Dach verharrten
zwei Feuerwehrmänner im Rettungskorb der ausgefahrenen Drehleiter von »Florian
Nordfriesland«, wie die Fahrzeuge der Feuerwehr genannt wurden.
    »Mensch, Junge, komm zurück. Nichts auf der Welt kann
eine solche Bedeutung haben, dass du dafür deine Gesundheit riskierst.«
Christoph war zum »Du« übergegangen. Er glaubte, damit eine bessere Verbindung
zu dem Verzweifelten herstellen zu können. Er war sich nicht sicher, ob Auhagen
ihn wahrgenommen hatte. Der stierte immer noch in den Abgrund.
    Christoph schob sich erneut ein wenig vor. Er hatte
auf diese Weise etwa die Hälfte der Distanz zu Auhagen zurückgelegt. Bei seiner
nächsten Bewegung drehte sich Auhagen halb um, und weil eine neue Windböe über
das Dach raste, strauchelte er ein wenig, fing sich aber sofort.
    »Bleib da!«, rief der junge Mann Christoph zu.
    »Ist in Ordnung.« Christoph hing in die Hocke. Er
wollte damit signalisieren, dass er auf die Wünsche des anderen einging, ihn
nicht bedrängen wollte. Dort blieb er eine Weile reglos sitzen, bis er sich
erneut unmerklich in Richtung Dachrand vorwärts bewegte. Es war schwierig, die
Fußspitzen auf dem Dach nach vorne zu schieben, sich mit den Fingerspitzen im
Gleichgewicht zu halten und dennoch den Anschein zu erwecken, er würde seine
Position nicht verändern. Christoph hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er
schien schon eine Ewigkeit im Wind auf diesem Dach auszuharren. Dafür hatte er
sich aber unmerklich bis auf fast zwei Meter dem jungen Mann genähert. Bei
dieser Entfernung war das Sprechen möglich.
    »Warum machst du das?«, fragte Christoph.
    »Warum? Fragst du das in echt? Das lohnt doch alles
nicht mehr.«
    »Was?«
    »Na, alles. Die haben mich doch kaputtgemacht.«
    »Wer?«
    »Alle.« Auhagen legte eine Pause ein. Er kramte in der
Tasche seines dünnen Blousons und fischte eine zerknautsche Zigarette hervor.
Er bemühte sich vergeblich, die Zigarette

Weitere Kostenlose Bücher