Mordloch
sich der geflieste Vorplatz der Terrasse befand. Der angenehme Duft einer Blume stieg ihm in die Nase, als er die Rückseite des Gebäudes erreichte, wo Gartenmöbel und eine Hollywoodschaukel standen. Westerhoff überkam plötzlich ein ungutes Gefühl. Er, der seriöse Angestellte in leitender Position, schlich nachts durch fremde Gärten und starrte in Fenster, als ob er eine günstige Gelegenheit zum Einbrechen suchte. Und dies alles nur, weil ihm diese Frau nicht mehr aus dem Sinn ging, weil ihm diese heimliche Liebe zu ihr seit Monaten den Schlaf raubte. Manchmal konnte er überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Er näherte sich der verglasten Terrassenfront, in deren schwarzen Fenster sich der aufgehellte Westhimmel sanft spiegelte. Auch hier waren also die Rollläden nicht geschlossen. Westerhoff blieb für ein paar Sekunden stehen. Dann entschied er, entlang der anderen Seite des Gebäudes zum Vorgarten zurückzugehen. Auf diese Weise würde er feststellen können, ob zumindest rein äußerlich alles in Ordnung war. Während er sich zwischen Glasfront und Hollywoodschaukel vorbeizwängte und dabei die nachtschwarze Umgebung im Auge behielt, kamen ihm Zweifel am Sinn seines Umherschleichens. Wenn Sarahs Auto nicht in der Garage stand, war sie weggefahren – und dann konnte ihr im Haus auch nichts zugestoßen sein.
Er war gerade ein paar Schritte weitergegangen, vorbei an einem ebenerdigen Fenster, da zuckte er zusammen. Hatte er im Augenwinkel eine Bewegung bemerkt? Etwas hinter dieser schwarzen Fensterscheibe? Hatte sich der Vorhang bewegt, der sich schemenhaft abzeichnete?
Westerhoff zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. Er spürte Gänsehaut. Mit einem Schlag war ihm klar: Irgendjemand beobachtete ihn.
34
Ein Sommermorgen wie aus dem Bilderbuch. Die Sonne stand bereits hoch über der Albkante, als der junge Eisenbahner mit der orangefarbenen Sicherheitsjacke in den blauen Bagger kletterte. Sie wollten das betagte röhrende Ungetüm ›Hartmut‹ taufen – in Anlehnung an den Vornamen des Bahnchefs Mehdorn. Florian Metzger hatte beim Treffen der Eisenbahnfreunde gestern Abend diesen Vorschlag unterbreitet und ihn damit begründet, dass der Bagger genau so wie Mehdorn alles Gewachsene zerstöre. Mit einem Unterschied aber, wie der junge Mann betonte: Während ihr Bagger dies tue, um Neues entstehen zu lassen, würden unter Mehdorn die vorhandenen Strukturen zerschlagen. Die Mitglieder der Interessengemeinschaft waren von der Deutschen Bahn AG maßlos enttäuscht. Wo immer es ging, hatte sie ihnen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Und noch war es unklar, ob die Hobbyeisenbahner jemals tatsächlich die Verknüpfung ihrer Nebenstrecke mit der Hauptlinie zustande bringen würden – und es finanzieren konnten.
Metzger verdrängte derlei Gedanken, wenn er in der aufgeheizten Kabine aus Glas und Blech saß und mit den schwer gängigen Hebeln den Ausleger schwenken ließ und die Baggerschaufel betätigte. Es gelang ihm immer besser, die Sträucher und Stauden links und rechts des Gleises herauszureißen und an die Böschung zu legen. Auch hier, direkt am Firmengelände der WMF, hatte die Natur bereits damit begonnen, sich den Schienenstrang zurückzuerobern. Metzger arbeitete wie besessen. Mindestens 200 Meter wollte er heute schaffen. Und wenn es in der engen Kabine noch so heiß würde. Er klappte die Fenster hoch und freute sich über jeden Luftzug.
Doch nach zwei Stunden, es war kurz nach halb zehn, verspürte er unbändigen Durst. Schweiß rann ihm über die Schulter, seine Haare waren feucht. Außerdem musste er einen Bolzen befestigen, der sich an der Baggerschaufel zu lösen drohte. Ein paar Hammerschläge würden notwendig sein.
Metzger schwenkte den Aufbau des Baggers um die eigene Achse, sodass die Fahrerkabine dorthin zeigte, wo er zurückfahren wollte. Ruckelnd setzte sich das Schienengefährt in Bewegung, an der bereits kahlgeschlagenen Böschung entlang. Metzger wollte zum Tälesbahn-Bahnhof fahren, denn dort hatte er seine große Werkzeugkiste abgestellt. Dazu musste er eine Straße überqueren, wozu laut Vorschrift ein zweiter Mann notwendig gewesen wäre, der den Verkehr hätte stoppen müssen. Metzger, eigentlich gesetzestreu und mit den vielfältigen Bestimmungen der Eisenbahn bestens vertraut, hatte allerdings auch heute Morgen schon diese Vorschrift ignoriert. Zum einen gab es auf dieser Straße kaum Verkehr und zum anderen brauchte er sich ja nur langsam vorzutasten
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