Mordloch
Tür geöffnet hatte und sich vor Sarah aufbaute. Die Frau lag zusammengekauert auf ihren Matratzen. Ihr ging es schlecht. Im Raum roch es nach der chemischen Toilette und nach verbrauchter Luft. Die Stunden und Tage waren dahingekrochen. Ohne Ablenkung, ohne etwas zum Lesen, ohne Radio, ohne mit jemandem reden zu können, hatte sie die schrecklichste Zeit ihres Lebens verbracht – und was noch auf sie zukommen würde, raubte ihr den Schlaf. Eines jedoch war ihr immer klarer geworden: Die Männer würden sie nicht mehr freilassen. Sie war eine große Gefahr – für die Organisation und für die Geschäfte. Wenn sie Glück hatte, großes Glück, dann kam sie irgendwo im fernen Anatolien oder in einem anderen südosteuropäischen Land mit dem Leben davon. Die panische Angst, einfach getötet zu werden, hatte sich mittlerweile gelegt. Dazu wäre keine »Reise« notwendig gewesen, wie sie bereits mehrfach angekündigt worden war. Man wollte sie außer Landes bringen, das stand fest.
»Waschen«, zischte der Mann. »Bevor es geht los, musst waschen dich. Sagt Chef.« Mit lautem Lachen fügte er hinzu: »Reise ist lang.«
Sarah wusste nicht, was dies alles bedeutete. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Der Mann kam auf sie zu, packte sie unsanft am linken Arm und zerrte sie hoch. »Rüber in Waschraum – los geht’s.«
Sarah versuchte, den Griff, der ihr wie ein Schraubstock vorkam, abzuwehren. Doch ihr Peiniger hatte bärenstarke Kräfte und verpasste ihr eine Ohrfeige. Die Frau taumelte, schrie, schluchzte, stieß dem Mann einen Ellbogen gegen die Brust, ohne allerdings eine Reaktion auszulösen. Ihr linkes Ohr dröhnte, ihr Kopf tat weh. Sie gab den Widerstand auf.
Der Mann zerrte sie aus ihrem Kellerverlies auf den neonhellen Gang und dort bis zu dem Waschraum, in dem sie schon einige Male Zähne putzen und das Gesicht waschen durfte. Jetzt lagen dort auf einem Holzschemel frische Kleider – Unterwäsche, Jeans und eine Bluse. Sie erkannte sofort, dass es ihre Sachen waren. Auf dem Waschbecken waren Seife, Duschgel und Shampoo aufgereiht und zwei bunte Handtücher bereitgelegt. »Wie in Hotel«, höhnte der Mann und ließ Sarah vor dem Waschbecken los. »Gründlich waschen – geht jetzt paar Tage nicht.«
Sie schaute sich verängstigt um.
»Los«, befahl er mit seinem breiten Grinsen. »Ausziehen.«
Waren bereits unterwegs entlang der Strecke viele Videofilmer aufgetaucht, so schienen sie sich am Bahnhof von Stubersheim gegenseitig die besten Perspektiven streitig zu machen. Der Zug rollte langsam aus und blieb mit einem kräftigen Ruck stehen. Türen zur Plattform wurden geöffnet, Passagiere sprangen hinaus, Kinder tobten herum. Florian Metzger eilte an den Waggons entlang, versuchte sich einen Überblick zu verschaffen, wer ein- und wer ausstieg. Einige Familien, deren Väter Rucksäcke trugen, nahmen den Bahnhof offenbar als Ausgangspunkt für eine Wanderung. Sie würden am Nachmittag an einem der anderen Haltepunkte wieder in den Zug einsteigen. Häberle war auf die Plattform hinausgegangen. Er genoss die sommerliche Luft und eine kühle Brise, die hier auf der Albhochfläche über die Landschaft strich, und schaute den Passagieren nach, die in Richtung Bahnhofsgebäude davon strebten. Tatsächlich, Häberle kniff die Augen zusammen, auch dieser Freudenthaler hatte den Zug verlassen. Der Mann war heute ganz anders gekleidet, als neulich. Kein korrekt sitzender Anzug, sondern eine saloppe Hose und ein kariertes, kurzärmliges Hemd.
Linkohr hatte sich auch auf die Plattform gequetscht, wo jetzt vier weitere Personen standen.
»Hätt’ ich dem Kerl nie zugetraut, dass der als Wandersmann über die Alb marschiert«, bemerkte Häberle. »Mich würde brennend interessieren, was der wirklich im Schilde führt.«
»Möglichkeiten für den Tourismus ausloten«, meinte sein junger Kollege trocken, als sich die Menschenmenge wieder zurück in den Wagen schob. Es würde gleich weitergehen. Die beiden Kriminalisten blieben auf der Plattform stehen. Metzgers Pfiff lag schrill in der Luft, die Dampflok stieß fauchend eine Qualmwolke in den Himmel.
Die Kupplungen der Wagen schepperten, es ruckelte und schaukelte – dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Von der gegenüberliegenden Wagenseite aus, versuchte sich Metzger einen Weg durch die stehenden Passagiere zu bahnen. Er kontrollierte die Fahrkarten, was bei vielen der älteren Herrschaften zu gewissen Unmutsäußerungen führte. Doch der
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