MORDMETHODEN
Richard Helmer hatte zum Glück im März eine Gesichtsnachbildung fertig gestellt ( Abb. 6 ).
Helmer ist einer der Pioniere der forensischen Gesichtsnachbildung. Zu seinen wissenschaftlichen Vorgängern zählt der russische Anatom Michail M. Gerassimow. Dieser hatte sich auf die Suche nach Gesichtern (vor allem dem des »Urmenschen«) gemacht, die er aus Skeletten nachbilden wollte. Durch ein ins Deutsche, später auch ins Amerikanische übersetztes, allgemein verständliches Buch wurde er auch im Westen bekannt ( Abb. 5 ). Gerassimow starb im Juli 1970, kurz nach Erscheinen seines Buches, im Alter von 62 Jahren.
Im Gegensatz zu Helmer beschäftigte sich Gerassimow am liebsten mit den Überresten von Menschen aus der Vergangenheit, darunter Iwan dem Schrecklichen, Friedrich Schiller und dem Heidelberg-Menschen. Doch Wissenschaftler wie der Jenaer Knochenkundler von Eggeling oder der tschechische Professor Suk befanden schon damals, dass es wegen der vielen Unsicherheiten unmöglich sei, Gesichter auch nur annähernd korrekt nachzubilden. Erst als Gerassimow erfolgreich an Mordfällen zu arbeiten begann, zeigte sich, dass er nach jahrelangen Vorversuchen sehr wohl wirklichkeitsnahe Gesichter aus dem knöchernen Schädel ableiten konnte. »In den letzten Jahren«, schrieb er am Ende seines Lebens, »sind viele von mir auf menschlichen Schädeln rekonstruierte Porträts bekannt geworden. Sie sind in wissenschaftlichen Sammlungen und in verschiedenen Museen ausgestellt. Sie werden als glaubwürdig befunden … wobei die Identität der Rekonstruktionen durch Vergleiche mit Lebendfotografien bewiesen wird.
Bach, Raphael und das verstreute Skelett eines Jungen
Seit 1867 versuchten mehrere Anatomen, knöchernen Schädeln ihr Antlitz zurückzugeben. Dabei ging es aber nicht um Verbrechensopfer, sondern um Berühmtheiten oder archäologische Funde. Friedrich Gottlieb Welcker arbeitete nicht nur an der Nachbildung des »Fürstengruft-Schädels« Friedrich Schillers, sondern auch an den Schädeln Dantes und Raphaels. Dabei verglich Welcker seine Nachbildungen stets mit gezeichneten Porträts der Personen, die er abformte, oder mit anderen Hinweisen auf deren Aussehen, etwa in den Arbeiten Raphaels.
Erst der auch heute noch bekannte Anatom Wilhelm His arbeitete 1895 beinahe forensisch. Es ging um die Frage, ob ein Schädel, der Johann Sebastian Bach zugeschrieben wurde, wirklich von diesem stammen könne. Der Vergleich der His’schen Gesichtsnachbildung mit den Porträts des Komponisten ergab eine gute Übereinstimmung.
Die kriminalistische Anwendung der Methode wurde zwar schon 1899 von Hans Gross im Archiv für Kriminalanthropologie vorgeschlagen, aber es fehlten noch genügend Daten zu den Weichteildicken der verschiedenen Gesichtspartien. Auch blieb es sehr umstritten, ob eine nur auf eine einzige Person hinweisende Gesichtsnachbildung möglich wäre. Heute sind die Wissenschaftler immerhin so weit, dass sie eine Grundähnlichkeit mit dem Gesicht der verstorbenen Person garantieren.
Gerassimows erster Fall spielte sich 1939 in Leningrad ab. Die Knochen eines Menschen waren auf einem Feld gefunden worden. Irgendjemand hatte sie über eine Fläche von 12 mal 15 Metern verstreut. Allerdings können auch Tiere eine Leiche so zerlegen, und tatsächlich fanden sich Bissspuren, die von einem Wolf stammen konnten. Weitere20 Meter abseits tauchten Schädel und Unterkiefer des Skeletts auf. Hier waren nun Schnittspuren zu erkennen, die sicher nicht von einem Tier stammten. Gerassimow erinnerte sich 30 Jahre später:
»Als ich zu dem Untersuchungsrichter ins Zimmer trat, saß er gerade an dem Entwurf einer Verfügung über die Einstellung des Verfahrens. Er sah mich unfreundlich an und fragte: ›Sie wünschen?‹
Ich erwiderte: ›Soeben hat mir Leutnant Gudow aus der Abteilung I der Milizverwaltung mitgeteilt, dass sich bei Ihnen das Skelett eines Unbekannten befindet.‹
›Ja, und?‹, fragte der Untersuchungsrichter zurück.
›Ich arbeite schon mehr als 15 Jahre an dem Problem der Porträtrekonstruktion und glaube, Ihnen bei der Identifizierung helfen zu können.‹
Der Untersuchungsrichter knurrte: ›Unsinn. Da kann niemand helfen. Aber wenn Sie schon mal da sind, packen Sie die Knochen ein. Wir haben sowieso nichts zu verlieren. In zwölf Stunden muss ich den Entwurf der Verfügung über die Einstellung des Verfahrens einreichen, da ist es gleichgültig, ob sie ins Krematorium kommen oder Ihnen übergeben
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